Maria Schmidt
G R I E C H I S C H E
S O M M E R B I L D E R
B I L D E R V O M J E T Z T
L i c h t
Der Sommerhimmel über Griechenland, über dem griechischen Meer ist eintönig, eintönig im Ursinn des Wortes: Über dem kargen Land, über den dunkel glänzenden Wasserflächen, über den ungezählten Inseln spannt sich das Himmelsgewölbe in einem einzigen, nirgendwo nachlassenden Farbton. Es ist das von uns Nebelgeborenen so bewunderte Himmelsblau.
Durch dieses Blau nun zieht Helios, der Weißstrahlende, in seinem von funkensprühenden Rossen gezogenen Wagen die immer gleiche Bahn. Vom aufblitzenden Morgen bis zum nachglühenden Abend steigt und sinkt der Gott in gewaltigem Bogen über Land und Meer, ohne je verdrängt zu werden vom düsteren Spiel der Wolken, ohne sich je seinen Weg erkämpfen zu müssen durch wild quellende Nebelschwaden. Von nichts gemildert, von nichts gedämpft sendet der Glühende Belebendes und Versengendes auf die Irdischen hinab, Tag für Tag, Jahr für Jahr, für alle der Erde zugewiesene Zeit.
Wenn man auf einen der griechischen Inselberge steigt, um noch ein wenig weiter über die Wölbung des Meeres hinwegzuschauen, dann verbindet sich in der Ferne das Blau des Himmels mit dem Schimmer des Wassers zu einem hellen Schleier, welcher Lüfte, das Meer und all die fernen Inselketten gleichermaßen umschließt, welcher die Konturen verwischt zwischen den Elementen.
An jedem Morgen und an jedem Abend breitet sich dieser Schleier so weit übers Meer, daß man ihn auch von den Stränden aus sehen kann. Am Morgen, wenn der noch kühl schimmernde Gott aus den Wassern steigt, erfüllt er das dunstige Schweben mit seinem silbrigen Licht. Am Abend, wenn der Feurige aufglühend hinabtaucht in die Tiefe, hinterläßt er noch lange über den Wassern rötlich zarte, nur widerwillig in der Dämmerung verrinnende Streifen.
W i n d
Fast zu allen Jahreszeiten empfinden wir Nordländer das luftig strömende Element als etwas Feindliches, als etwas, das uns hineintreibt in unsere schützenden Behausungen.
Wie anders strömt es über dem sommerlichen Griechenland. Ob es vorbeistreicht wie ein zarter Hauch, ob es als zupackender Strom heranzieht und, alles mit sich fortreißend, anschwillt zu einem wilden Brausen, stets ist es des kalten Boreas milder Bruder Zephyros, der kommt mit wärmender, mit einhüllender Freundlichkeit. Die Brisen, die Windströme, die Stürme, nie drängen sie das, was sich ihnen entgegenstellt, fühllos beiseite. Ob Pflanze, ob Tier, ob Mensch, selbst im Mitgerissenwerden spüren sie alle des Gottes zart kühlende Hand, welche ihnen das Sengen des Glühenden mildern möchte
M e e r
Welle um Welle gleitet über die weiten Wasser, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Das Meer raunt und rauscht fort durch die Jahrtausende, fort durch die ihm gegebene Zeit.
Morgen für Morgen, wenn Helios seine Funken auswirft, strahlt es auf über seiner Tiefe. Millionenfach entzünden sich die Wellen, blitzen auf, verlöschen wieder, um sogleich erneut mit dem Silber des Himmlischen übergossen zu werden.
Die Wasser gleißen und beben im Licht. Will man sie mit dem Blick erfassen, entgleiten sie, um an anderer Stelle mit um so hellerem Glanz das Auge anzulocken.
Auf dem Grunde des Meeres aber, in den Abgründen der lichtlosen Wasser wohnt Poseidon, der Erderschütterer. Er kann, wann immer es ihm beliebt, aus seiner Tiefe die schimmernden Wellen aufwühlen zu rasenden, todbringenden Wogen.
Das griechische Meer wird auch das Ägäische genannt, das Meer des Königs Aigaios. Aigaios, der König von Athen, wartete auf dem Burgberg der Stadt auf die Rückkehr seines einzigen Sohnes Theseus. Durch ein schwarzes Segel des heimkehrenden Schiffes getäuscht, glaubte er seinen Sohn tot und stürzte sich voller Verzweiflung in die Tiefe.
Schiffsreise
Zum Meer gehören die Schiffe der Menschen.
Widerwillig teilen sich die Wasser zu beiden Seiten des Schiffsbugs, schäumen zornig auf an den Wänden und finden sich am Ende des Schiffes wieder zusammen zu einem langen, weißen, nur zögernd wieder versinkenden Streifen.
Je weiter man sich von den Ufern entfernt, desto mehr füllen sich die Wasser mit dem Dunkel des Grundes. Bald stehen diese schwarz drohend über ihrer Tiefe und werfen die Helligkeit des Himmels zurück in den hohen Tag.
Inseln ziehen vorbei, blaßbraun, erstorben, ohne Leben, ohne einen Weg. Steintürme ragen aus den Tiefen, nur an den Kanten vom Lichte berührt. Inseln kommen, welche hoch aufsteigen, um jäh zum Meer hin abzustürzen mit wild zerklüfteten Klippen. Inseln ziehen heran, die zum Meer sich neigen mit langen steinigen Ufern. Als dunkle Umrisse, als zarte Linien, als ferne Schatten schieben sich die Inseln der Ägäis ineinander, aneinander vorbei, kommen und versinken wieder hinter dem schwarzblauen Meereshorizont, über welchen ein feiner silberner Streifen steht.
Die Wärme, welche über die am Reling lehnenden Schiffsreisenden streicht, wird dichter, durchdringt die Menschen und macht sie zu ihrem Eigentum. Vom Wasser ist alles Licht gewichen. Die Tiefe ist emporgestiegen, um alles Sichtbare zu umhüllen. Das weite, unergründliche Dunkel der Wasser grenzt sich nicht mehr ab von des Himmels tiefer Nacht. Die Menschen am Reling sind stumm. Sie mögen sich hinabgelockt fühlen zum Gott des Schweigens, welcher die Wünsche und die fordernden Stimmen nicht kennt. Sie mögen Sehnsucht empfinden zum Ort der Schatten, wo es zwischen fern und nah, zwischen einst und jetzt, zwischen Form und Grenzenlosigkeit keine Unterschiede mehr gibt. Die Sterblichen mögen Verlangen spüren, selbst Dunkelheit zu werden, weites, lichtloses Schweifen ohne Wiederkehr.
Lichter tauchen auf, ziehen heran, versinken. Neue Lichter kommen und versinken wieder. Hoch oben über den schwarzen Wassern aber stehen die Bilder derer, welche die Himmlischen zu sich empor geholt haben. Wie Tore stehen die Sterne in der Nacht, Tore zu denen, die nicht sterben, Tore zu denen, die alles in allem sind für alle Zeit, und diese sind nah.
L a n d
Als die ersten Hellenen vor rund viertausend Jahren aus dem Norden ins Land kamen, haben sie Land und Inseln duftend, blühend und bewaldet vorgefunden.
Plato erzählt vom alten Attika:
Damals erschienen „die Berge wie Erdhügel, die Talgründe ...waren mit fetter Erde bedeckt, und die Berge bekränzten dichte Waldungen....
Auch trug der Boden viele andere, hohe Fruchtbäume und bot den Herden höchst ergiebige Weide; vorzüglich aber gab ihm das im Laufe des Jahres vom Zeus entsandte Wasser Gedeihen.....indem er viel Erde besaß, in sie es aufnahm und es in einer schützenden Tonschicht verteilte, entließ er das von den Höhen eingesogene Wasser in die Talgründe und gewährte allerwärtshin reichliche Bewässerung durch Flüsse und Quellen...“
(Platon, Kritias, 111 c, d)
Heute erinnert in Griechenland nur noch sehr Weniges an das, was einmal war. Zu dem Wenigen gehören Teile der Insel Samos:
Wald
Aus einem dunklen, feuchtigkeitsgesättigten Talboden der Insel sind hochstämmige, von Efeublättern umschlungene Laubbäume emporgewachsen, meist die uns so vertrauten Eichen und Buchen. In der Höhe sind ihre dichten Wipfel zu einem Zelt zusammengeschlossen. um das, was zusammen mit ihnen aufgewachsen ist, vor dem Zugriff des Sengenden zu schützen: Kräuter und Büsche blühen in einer kühl - grünen Dämmerung, in welche der Himmlische nur wenige auf und nieder huschende Funken hineinzusenden vermag. Von den Felswänden herab fließt der Bach, fließt über glattes, schwarzglänzendes Gestein, rauscht unermüdlich durch die bebende Stille. Es ist, als wolle er die zartgliedrige Nymphe an seinen Ufern nicht merken zu lassen, daß in der Tiefe des Blätterdunkels der bocksfüßige Satyr lauscht, voll von ungeduldigem Verlangen.
Wenn dann die tanzenden Grüße und Spiele des Himmelsgottes am Ende eines jeden Tages erloschen sind, wenn die Nymphe endlich das Glühen des Tierfüßigen spürt, dann beginnen die Nachtigallen, die Nachtsänger, ihr langes sehnendes Lied. Es ist ein Lied, welches den Hellenen, als sie einst aus dem Norden hierher kamen, schon immer vertraut war.
Tal
Von der Höhe der samischen Berge erstreckt sich das Tal hinab zum Meer. In seiner gesamten Länge ist es von Pinien, der langnadeligen Kiefer des Südens, bewachsen. Tief hängen die Zweige zum Boden herab, so daß sich ihre hellen Nadeln mit den roten Blüten des Heidekrauts berühren. In der Ferne verdichten sich die Wipfel der Bäume zu einem schwebenden, nur hier und da von dem dunklen Umriß einer Zypresse unterbrochenen Leuchten, durch welches die Sommerkräuter ihre duftenden Gaben dem Himmlischen entgegensenden. Von irgendwoher rufen Vögel wie im Traum. Insekten fliegen herbei und verlieren sich wieder im warmen Glanz. Ganz leise bewegt sich zuweilen in den Wipfeln ein Zweig oder auch ein herabgefallenes Blatt auf dem kühl - feuchten Boden.
Zur Rechten steigen weiße Felsen auf, zunächst von spärlichem Grün bedeckt, in der Höhe kahl und unzugänglich für alles Lebende, an ihren Spitzen vom Lichte durchtränkt, entrückt zu fernen, durchscheinenden Schatten.
Und weit draußen, dort, wo Himmlisches und Irdisches sich im Dunst verbindet, liegt weit ausgebreitet, blau - silbern das alles umschließende Meer.
Der, welcher aus dem Norden kommt, kann die golden - warme Steigerung des ihm Vertrauten nicht lange ertragen. Es ist ihm für Augenblicke, als quäle ihn das Bild, welches er nur zu suchen ausgegangen ist, nicht aber, um es wirklich zu finden. Es ist ihm, als müsse er sich abwenden, zurückkehren in die ihm eigene Dämmerung, um sich weiter nach dem sehnen zu können, was ihm hier vor Augen steht. Es ist ihm, als sei er nicht fähig, die Gaben der Himmlischen von solcher Nähe zu schauen.
Schon zu Platons Zeiten aber erschienen weite Teile des Landes wie
„Knochen des erkrankten Körpers...., indem nach dem Herabschwemmen des fetten und lockeren Bodens nur der hagere Leib des Landes zurückblieb.“ (Kritias, 111 b)
„...viele und mächtige Überschwemmungen...“ (Kritias, 11 a) sollen die Veränderung bewirkt haben. Der Holzbedarf der Hellenen und all derer, die nach ihnen kamen zusammen mit den Freßgewohnheiten der allgegenwärtigen Ziegen haben noch das Ihrige dazu beigetragen, daß im heutigen Griechenland mit wenigen Ausnahmen die Wälder und mit ihnen die Nymphen und Satyre verschwunden sind, die Kräuter verdorrt, die Bäche und Quellen ausgetrocknet.
Fast überall in Griechenland zeigen sich Bilder wie diese:
Staub
Wieder und wieder wirbelt der Staub auf über dem langen grausteinigen Weg. Hoch steht der Dunst der trockenen Erde im Himmelsblau und durchtränkt es mit seiner Blässe. Lange kämpft das zitternde Licht, bis es den Staub ganz in sich aufgenommen hat.
Das leicht ansteigende Land ist zu Terrassen aufgeschüttet, welche durch niedrige, aus unbehauenen Steinen errichtete Mauern abgestützt werden. Auf den ursprünglich zur landwirtschaftlichen Nutzung bestimmten Flächen aber wächst nichts. Totes Gras liegt auf fahlem Boden. Eingeengt zwischen Dornengewächsen hat ein erschöpfter Feigenbaum seine Blätter abgeworfen. Die kleinen farblosen Hütten hier und da am Rande haben sämtlich ihre Türen verschlossen.
Das Summen der wenigen Insekten verrinnt in der stummen Glut. Weit in der Ferne zieht ein Krähenvogel seinen Weg.
Hier ist Helios als der Versengende, als der Verzehrende allein der Herr geblieben. Nichts entgeht mehr seinem glühenden, alles Lebendige verbrennendem Atem.
Weit draußen nur, unerreichbar hinter den graudunstigen Schleiern der Ferne, leuchtet und lockt das kühlende, das heilende, das zartsilbrige Wasser.
Dornen
Obwohl es unter den zusammengetürmten, scharfkantigen Steinen, welche die Bergeshänge bedecken, so trocken ist wie um die Steine selbst, vermögen hier dennoch Pflanzen zu gedeihen. Immer wieder hat eine Distel die Nahrung für ihre goldenen Filigranblätter wer weiß woher genommen. Die Steine oft gänzlich überdeckend, jeden Winkel, jede Nische für sich einnehmend, wuchert, wohin man schaut, ein untereinander unentwirrbar verzweigtes Dornengestrüpp. Mit braunversengten Blättern, staubbedeckten Zweigen, nadelscharfen Spitzen, allein mit unbewegter Form, widersetzt sich die allgegenwärtige Macchia der zehrenden Glut.
Pinie
Doch hoch über den steinigen Stränden steht immer wieder einmal ein Baum, eine Pinie etwa, welche sich mit ihren alt gewordenen Ästen, mit ihren geschwärzten Nadeln und den verdorrten Zapfen wie eine dunkle, harte Dolde dem Licht zuwendet. Die Erinnerung an die Zeit der kühlen Pinienwälder, an die Zeit der Nymphen und Satyre mag solch einem Baum die Kraft geben, seine Wurzeln tief in den steinig trockenen Boden hinein zu senken und so den Glutwellen des Himmels zu trotzen.
Lange steht dann solch ein knorriger, fast zu Stein gehärteter Pinienbaum zwischen den wasserlosen Dornen, läßt das heißströmende Glühen gleichmütig über sich hingehen, bewegt, wie diese Ströme es wenden, seine erstorbenen Äste und Zweige und achtet nicht, wer sich der Köstlichkeit seines Schattens bedient. Mag der einsame Pinienbaum hier oben all seine Zeit auf das Atmen des Meeres lauschen, welches weit unten an den weißen Ufern seine Wellen bricht, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr.
Nacht
Abend für Abend aber, nachdem der Brennende versunken ist, die Lichtstreifen verglüht sind, Abend für Abend schickt das Land sich an, Teil der Nacht zu werden, welche sich aus den Himmeln herabsenkt mit erlösender, samtener Dunkelheit. Abend für Abend steigt die Schwester des Glühenden, steigt Selene über den Horizont empor und berührt das Steinige, das Harte, das Heiße mit ihrer durchscheinenden Hand. Abend für Abend wird all das Verbrannte der Kühlenden gleich, bewegungslos, silberumglänzt, wie Schatten entrückt in unzugänglicher Ferne.
Und dann beginnt das erloschene Land der Griechen erneut zu atmen. Dann öffnet es wieder seine am Tage wie für immer verschlossenen Tore. Dann schickt das Land seine Ströme aus den tiefen Quellen und erfüllt das weiche Wehen der Nacht mit seinen süßen, betäubenden Düften.
T i e r e
Als die ersten Hellenen kamen, war das Land auch noch erfüllt von den Mitwesen der Menschen, die in den Bergen, an den Quellen, in den Wäldern ihre Wohnung hatten. Die Menschen begegneten den Tieren mit Furcht und Staunen.
Homer vergleicht seine Helden mit dem mächtigsten der Tiere, mit dem Löwen des Bergwaldes:
„Jetzt wie ein Löw', im Gebirge genährt, der Stärke vertrauend,
hascht aus der weidenden Herde die Kuh, die am schönsten
hervorschien“ (Ilias, 17. Gesang, 61 f.)
Oder:
„...........Wie ein bärtiger Löwe des Bergwalds,
Welchen Hund' und Männer hinweg vom Gehege verscheuchen
Rings mit Speer und Geschrei,,,,“
( Ilias, 17. Gesang, 110 -113)
Mit den Wäldern und Quellen sind auch die Tiere gegangen. Zwischen den Steinen und Dornen, unter den einsamen Bäumen regt sich kein Leben.
Durch die heiß flimmernden Lüfte dringt kaum noch ein Ruf.
Geblieben sind nur die Tiere, welche der Mensch sich für immer zu seinen Knechten gemacht hatte.
Der Esel
Meist ist sein schmaler Körper über und über mit Lasten bedeckt, von welchen der Mensch meint, daß er sie selbst nicht tragen könne. Säcke, Körbe, Kisten, Pfannen, Sträuße, Müll, alles ist um ihn herum gebunden und geschnürt, so daß man ihn eigentlich für bewegungsunfähig halten müßte. Mit seinen zierlichen Hufen, mit seinen zarten Beinen jedoch, die ob der zu tragenden Bürde bei jedem Schritt zu zerbrechen drohen, sucht das Tier auf den steinigen, steilen Hängen seinen Weg. Den Kopf mit den überlangen Ohren gesenkt, den Blick leer auf den vor ihm liegenden Boden gerichtet, scheint dem Esel der Wille, die ihm auferlegte Last abzuwerfen, für immer verloren gegangen zu sein. Des Esels Schöpfer ist der Mensch. Der Mensch ist des Esels Gott. Der Mensch bestimmt, wie lange der Esel ihm zu Diensten stehen muß. Der Mensch legt fest, wie lange das Tier, am Hals oder an den Füßen angebunden, im Glühen des Lichtes auf seiner ausgedörrten Weide ausruhen darf. Wenn es nichts zu tragen gibt, sitzt der Mensch selbst, die Beine neben sich auf dem Boden schleifend, auf des Esels magerem Rücken.
So trägt der Esel, was immer man ihm auferlegt. Er trägt und trägt, ohne Aufbegehren, ohne Hoffnung, ohne Trost. Er trägt, bis seinen zierlichen Beinen für immer die Kraft gebricht, bis er fällt, um nicht mehr aufzustehen.
Sehr selten nur, zuweilen in der Nacht, wenn er seinen Schöpfer schlafend wähnt, ruft der Esel seinen Jammer hinaus in einem langen, klagenden, in einem herzzerreißenden Schrei. Für solch einen Schrei aber gibt es kein aufmerksames, kein mitleidiges Ohr. Des Esels Gott, falls er von dem Schrei erwacht, wendet sich ab und schweigt.
Ziegen
Wenn ein Stück Land unter gewaltigen Mühen von den scharfkantigen Steinen und wehrhaften Dornen befreit und die graustaubige Erde mit rohen Mauern vor dem Neueindringen des Inselbewuchses geschützt ist, dann finden auf dem gewonnenen Boden zuweilen merkwürdige Bewegungen statt. Etwas sich vom Untergrund kaum Unterscheidendes springt unvermutet auf, läuft hierhin, läuft dorthin. Es schnuppert, es knabbert, es schmeckt, wo es weder etwas zu schnuppern noch zu knabbern noch zu schmecken gibt, und unvermittelt, wie mitten in einem Vorhaben anderen Sinnes geworden, steht die Ziege, steht der Ziegenbock still, hebt den Kopf mit den Lockenhörnern und schaut stumm mit gelben, durch einen dunklen Querspalt merkwürdig zweigeteilten Augen. Es sind Rätselaugen. Es sind Augen, welche trotz des langen Strickes um den Hals nichts von Unterwerfung zu wissen scheinen. Es sind Augen, welche der Herrschaft des Menschen spotten. Man könnte meinen, es seien noch immer die Augen des Satyr, welche dreist verlangend in den Tiefen des Waldes glühen.
Hunde und Katzen, welche der Mensch sich einst zu Kameraden schuf, sind in Griechenland der Aufsicht des Menschen entglitten. Sich nach Gutdünken vermehrend, durchstreunen die Tiere das Land. Außerstande aber, sich ohne die Hilfe ihrer einstigen Schöpfer zu erhalten, folgen sie weiter des Menschen Weg. Wo immer sie ihn antreffen, umstreichen sie seine Behausungen, versuchen sich Zutritt und Nahrung zu ertrotzen mit schmeichelnden Bewegungen, mit jammererfülltem Blick.
Meist sind es die an Tierelend nicht gewöhnten Touristen, welche den Hunger der Tiere stillen. Im Winter, wenn die Gäste ausbleiben, sterben die Katzen an Entkräftung, werden die Hunde vergiftet oder erschossen.
Hund
Die Hunde sind in Griechenland noch immer die gleichen, welche die Hellenen auf ihre Vasen malten: Langbeinige Tiere von der Größe eines Schäferhundes mit Kurzhaarfell in den unterschiedlichsten Brauntönen. Die Ohren, oft im tiefen Braun der Augen, hängen lang zu beiden Seiten des Kopfes herab. „Griechischer Laufhund“ heißt es im Hundelexikon, „nur in Griechenland vorkommende, seit je ohne Beimischung gebliebene Rasse.“
Ein schon zu Jahren gekommenes Urlauberpaar aus schwermütig - nördlichen Landen wandert einsam an einem der vielen griechischen Strände. Es folgt ihnen in gemessenem Abstand ein besonders magerer braungelber Hund. Da beide einen Sinn für die sprachlose Kreatur haben, wenden sie sich immer wieder nach ihrer schüchtern - zähen Gefolgschaft um. Der Hund nimmt dies jedoch nicht als Aufforderung, seinen Abstand zu den ihm freundlich Gesonnenen zu verringern. Bleibt das Paar stehen, wartet auch er.
In einer am Ende des Strandes gelegenen Taverne lassen die beiden sich nieder, um zu Abend zu speisen. Zusätzlich zu der eigenen Mahlzeit bestellen sie einen stattliches, von Knochen durchsetztes Stück Fleisch. Der Hund steht von ferne, Kopf, Ohren und Schwanz gesenkt, die Augen glimmend in unerfülltem Sehnen. Das Bestellte wird gebracht. In herzlicher Geberfreude ergreift die Frau das Fleischstück. Voller Hoffnung nähert sich das Tier. Da schießt es mit einem das Blut in den Adern zum Stehen bringenden Kreischen unter dem Tisch hervor. Aufblitzende Krallen beherrschen das Feld, funkelnde Augen und gesträubtes Fell: Zwei Katzen verteidigen nach Katzenart ihr Revier. Im Augenblick ist der Hund verschwunden. Verwirrt schaut das Menschenpaar sich an. Verwirrt schauen ebenfalls die Katzen, weil trotz ihres Sieges überhaupt nichts zu Boden fallen will. Das mehrfach erstrebte Fleischstück nämlich wird wieder eingepackt. Vielleicht zeigt sich ja noch ein anderen Hund.
So werden die Schatten länger. Die Enttäuschung des verjagten Tieres versinkt im Rauschen des Meeres. Als die beiden Tierfreunde den Rückweg antreten, ist es Nacht.
Am Ende des Strandes, dort, wo der Weg ins Land einbiegt, steht dann der Hund. Die Frau hat ihn zuerst gesehen. Bewegungslos, den Kopf gesenkt und dennoch die Augen verlangend in die Dunkelheit gerichtet, wartet das Tier, eine Silhouette herzzerreißender Ergebenheit in die Unabänderlichkeiten des Seins. Dann liegt das ersehnte Fleischstück, betäubende Gerüche aussendend, auf einem Stein. Noch immer rührt sich nichts. Noch immer bleibt alles still in bebender Erwartung. Dann aber springt es wie ein rasender Schatten aus der Dunkelheit, steht mit erhobenem Schweif über dem Stein, und weithin ist es nun zu hören, wie sich krachend und mahlend endlich, endlich die Sehnsucht so vieler langer Tage und Nächte erfüllt.
Nach wenigen Sekunden steht ein zweiter Schatten neben dem Stein, etwas kleiner, etwas schmaler, sonst die gleiche zwischen Sehnen und Entbehren abgemagerte Gestalt. Die Frau macht eine Bewegung, als wolle sie das noch Verbliebene zugunsten des Neuankömmlings etwas rücken. Sie bewirkt jedoch damit ein an die Empörung der Katzen erinnerndes, sie zutiefst erschreckendes Knurren. Angstvoll fährt sie zurück, und geduldig, den Kopf, die Ohren, den Schwanz gesenkt, wartet der kleinere Hund, bis alles ohne sein Teilhaben verzehrt ist.
Als die beiden Wohltäter sich schließlich zum Gehen wenden, stehen die Hunde in Eintracht nebeneinander und schauen den Davonziehenden nach mit todtraurigem Blick.
Katze
Eine junge Urlauberin hat tagsüber die Balkontüre ihres hoch über einem Dächergewirr gelegenen Hotelzimmers offen gelassen. Beim abendlichen Heimkommen entdeckt sie neben der geöffneten Tür eine schwarz - weiß gefleckte Katze. In ihrem bisherigen Leben hat sie noch nie etwas mit Tieren zu tun gehabt, schon gar nichts mit Katzen. Erfüllt von Berichten über mögliche Krankheitsübertragungen, fühlt sie sich versucht, die Katze mit einer heftigen Bewegung von dannen zu jagen. Unbeweglich aber sitzt das Tier, jeder Muskel gespannt, den Schwanz mit der weißen Spitze im Halbkreis um die ordentlich nebeneinander gestellten Vorderpfoten gelegt und tiefer Ernst in den fremden, grünen Augen. So verharrt auch das Mädchen ebenfalls ohne Bewegung und schaut mit fragendem Blick. Schließlich, jede Berührung mit dem Tier vermeidend, stellt sie einen Teller mit einem Joghurtklecks auf den Boden. Die Katze aber, den Blick ins Leere gerichtet, zeigt keine Reaktion. Das Mädchen wendet sich schließlich ab, um sich erst nach langer Zeit wieder wie zufällig nach dem Tiere umzuschauen. Im Zuge eines ausgedehnten sich Reckens und Dehnens hat die Katze inzwischen den schmalen Kopf zwischen die mageren Schultern gesenkt und begonnen, das Bereitgestellte ohne Anteilnahme zu umschnuppern. Ohne Anzeichen der Freude über das Dargebotene, ohne jedes begleitende Geräusch verzehrt das Tier endlich die wer weiß wie lange schon ersehnte Mahlzeit. Als der Teller am Ende derart gesäubert ist, als habe er nie mit irgendeiner Speise eine Berührung gehabt, beginnt die Katze, sich mit weichen, wie selbstvergessenen Bewegungen das Fell zu glätten, die Pfoten, die Beine, den Leib. Für lange Zeit ist es, als habe nun der Mensch seine Bedeutung verloren. Schließlich sitzt das Tier wieder so, wie es am Anfang gesessen hat, aufrecht, gespannt, den Schwanz um die zusammengestellten Vorderpfoten geringelt, den Blick auf das Mädchen gerichtet in rätselvoller Aufmerksamkeit. Dann aber, urplötzlich, ist die Besucherin über das Balkongitter auf eine für menschliche Vorstellungskraft nicht nachvollziehbare Weise im Gewirr der Dächer, Schornsteine und Geländer wie für immer verschwunden. Nachdenklich bleibt das Mädchen noch eine Weile auf dem Balkon stehen.
Am folgenden Tage läßt es die Balkontüre wiederum ein wenig offen.
Zikaden
Ein Tier nur hat der Mensch in Griechenland sich nicht umschaffen und unterwerfen können: Wenn die Nacht das Land umhüllt, wenn dieses antwortet mit seinen verborgenen Düften, dann beginnen die Zikaden ihr langes, helles Lied. Aus den toten Gräsern, aus den harten Kräutern singen sie von der Sehnsucht des Landes nach dem, was einmal war und was verloren ist für immer. Unaufhörlich singen und klagen die unsichtbaren Sänger durch die silberne Dunkelheit der Nacht.
M e n s c h e n
Wie die Wälder und die Tiere sind auch die Menschen gegangen, welche so lange Zeit in Hellas ihre Heimat hatten und welche wir im Geheimen noch immer in Griechenland suchen. Kinderarmut und ein selbstzerstörerischer Bruderkrieg haben die Kraft der blonden Hellenen für immer gebrochen. Andere leben heute in Griechenland. Diese anderen aber fühlen sich mit den Hellenen verbunden und sprechen weiterhin deren Sprache.
Juwelenhändler
Seit vor rund dreieinhalb Jahrtausenden die stattliche Insel Thera durch einen gewaltigen Vulkanausbruch buchstäblich in die Luft geschleudert worden ist, besteht jene, heute Santorin geheißen, nur noch aus den zweimal unterbrochenen Kraterrändern des einstigen Vulkans. Diese umschließen ringförmig die eingeströmten, Caldera genannten Wasser, in deren Mitte der Gipfel des noch immer rauchenden Vulkans über die Oberfläche ragt. Auf dem schwarzen Gestein des Kraterrandes, von Weitem wie eine helle Schaumkrone anzusehen, liegt der Ort, welcher nun den einstigen Namen der Insel trägt, Thera. Wegen des schmalen, jäh zur Caldera hin abfallenden Geländes sind die kleinen weißen Behausungen durch Treppen, Treppchen, Gänge und Bögen zu einem verwirrenden Labyrinth miteinander verbunden.
Die Insel lebt wie alle griechischen Inseln vornehmlich vom Tourismus. Thera hat als zusätzliche Einnahmequelle noch den Schmuckhandel und lockt von weit her seine Käufer. So ist eine der steilen, engen, für Tatenlose so verführerischen Gassen von Thera allein dem Juwelenhandel vorbehalten. Die Zahl der Geschäfte soll 68 betragen.
Mit Anbruch des späten Nachmittags, wenn tief unterhalb des Ortes die Alt - Thera überdeckenden Wasser stählern aufzuglänzen beginnen, öffnen die Schmuckgeschäfte ihre bis dahin verschlossenen Türen. Die Juweliere, sämtliche Landessprachen der hier täglich Vorbeitreibenden beherrschend, haben kaum Mühe, ihre Etablissements alsbald mit Kundinnen zu füllen.
„Schöne Frau“, schmeichelt ein gepflegt gekleideter Dunkeläugiger eine ebenfalls erlesen gekleidete dunkeläugige, trotz ihrer Jahre tatsächlich noch als schön zu bezeichnende Person in seinen Laden hinein.
„Was darf ich für Sie tun? Es steht alles zu Ihren Diensten.“
Der Grieche spricht ein akzentfreies Deutsch.
Die Dame wendet sich einem mit zierlich geschliffenen Brillianten dicht besetzten Kollier zu, in welches ein von etwas größeren Brillianten gesondert eingefaßter Rubin eingearbeitet ist.
„Legen Sie es an!“
Auch der Schmuckhändler ist nicht mehr jung. Das schwarze Haar ist an den Schläfen ergraut. Die treuherzig blickenden Augen in seinem bäuerlichen Gesicht sind bereits umgeben von den Spuren der Zeit.
Er nennt sich, dem Ladenschild zufolge, „Jack, the Greek“.
„Es gibt keine Frau“, eröffnet er seine Werbung, „und sei sie noch so schön, welche nicht durch den zu ihr passenden Schmuck noch schöner werden könnte. Die Steine kommen aus den Tiefen der Erde. Sie sind unvergänglich. Sie haben etwas von dem, was wir „Ewigkeit“ nennen.“
Von den scheuen, Berührungen vermeidenden Hilfeleistungen des Griechen unterstützt, legt die Dame das Kollier an und schaut in den bereitgehaltenen Spiegel. Das bunt - helle Blitzen der Brillianten und das tiefe Funkeln des Rubins entzündet in ihren Augen einen Widerschein.
„Ich liebe Steine,“ sagt sie. „Steine ermutigen mich zu dem Traum, ich könnte ihnen gleich werden.“
Zur offenen Tür strömt das Gold des Himmels herein und, als wolle es die Geschmückte noch zusätzlich verschönen, bricht es sich, tausendfach aufstrahlend, in den fein geschliffenen Steinen.
„Sie träumen nicht,“ sagt Jack. „Sie sind dem Steine ähnlich. Sie haben das, was sich jede Frau wünscht. Es ist das geheime Etwas, welches nicht vergeht mit dem Weiterschreiten der Zeit.
Einst trugen nur die Bilder der unsterblichen Götter den Schmuck der Steine. Heute können auch die Sterblichen wie Götter erscheinen.
Hier habe ich noch den zum Kollier passenden Ring.“
Auch der Ring war über und über mit Brillianten besetzt, welche einen leuchtenden Rubin umgaben.
Die Augen des Juwelenhändlers strahlen nun den Steinen gleich.
„Ich glaube, mehr als andere von meinem Geschäft zu verstehen, da ich die Goldschmiedekunst und die Steinverarbeitung von Grund auf gelernt habe.“
Er öffnet seinen Tresor und breitet auf einer Samtunterlage weitere Schätze vor der Staunenden aus.
„Ich verstehe auch etwas von meiner Kundschaft“, fährt er wie beiläufig fort.
„Die Damen aus den USA, welche aus den Kreuzfahrtschiffen täglich hier heraufgespült werden, kaufen völlig ohne Verstand. Juden sind als Käufer sehr unangenehm. Sie kommen nur, um zu handeln. Die liebsten Kunden sind mir die Deutschen. Sie haben durchweg Anstand und Geschmack.“
„Was soll das Kollier kosten?“ fragt die Dame.
„Es ist nicht leicht, im Zusammenhang mit dem Schönen über Preise zu reden, liebe Frau. Gerade dieser Rubin hat durch seinen außergewöhnlichen Schliff und durch seine erlesene Verarbeitung einen unendlichen, mit Geld eigentlich nicht zu bezahlenden Wert. Ich könnte mich eventuell entschließen, das Stück für nur 25 000,- DM abzugeben..... Ach, könnte ich es wirklich? Es bedeutete für mich einen herben Verlust. Soll ich mir, dem Schönen zuliebe, einen Verlust leisten?“
„Aber der Verlust wäre doch wohl noch nicht gleichbedeutend mit ihrem Ruin?“ Die Dame, noch immer mit dem tief leuchtenden Stein angetan, lächelt.
„Nein, nicht ganz“, der Händler lächelt ebenfalls.
„Wenn Sie sich auch noch für den Ring entschließen könnten, kämen nur noch ganze 5ooo,-DM hinzu.“
Irgendwo im Umkreis der Steine, erfüllt vom schräg hereinströmenden Sonnenlicht, treffen sich Jacks Augen mit denen seiner Kundin.
„Ich werde nachdenken“, sagt diese schließlich leise und löst mit feinen Bewegungen den blitzenden Schmuck von ihrem Halse.
„Vielleicht komme ich zurück.“
Auch, nachdem die schöne Kundin wie schwebend das Geschäft verlassen hat, ist das Leuchten in den dunkeln, von den ersten Anzeichen des Älterwerdens umgebenen Augen des griechischen Juweliers noch nicht erloschen. Mit ruhigen Bewegungen ordnet er die ausgebreiteten Stücke wieder ein. Sanft streicht er über die Steine des Kolliers, bevor er es zurücklegt in sein Behältnis neben den in gleicher Weise gearbeiteten Ring.
Taxifahrer
Ein Deutscher, schon etwas füllig, schon etwas grau, läßt sich mit einem Taxi quer durch Kreta fahren. Der Fahrer ist ein junger, schwarzlockiger Inselbewohner, welcher sein Fahrzeug wegen des nur selten unterbrochenen Rauchens einarmig handhabt, dennoch aber in einer, angesichts der kurvenreichen Inselstraßen beklemmenden Geschwindigkeit.
Die muskulösen Arme des Griechen sind von dunklem Haar bedeckt, ebenso die aus dem halboffenen weißen Hemd sichtbare, mit einem goldenen Kreuz geschmückte Brust. Wie fast jede Tätigkeit wird die Reise begleitet von den gleichförmigen Klängen der trotzig - melancholischen griechischen Musik. Fahrer und Fahrgast schweigen. Was spricht, ist das Land, das kahl - braune, steinige, vom himmlischen Glühen verzehrte Land.
Ca. alle 500 Meter steht entweder neben der Straße oder an einem von dieser gut sichtbaren Berghang eine gewaltige, auf Stahlgerüsten befestigte Tafel. In grellen, selbst widerstrebende Blicke zwingend auf sich ziehenden Farben werden den vorbeifahrenden Landeskindern und Gästen die Vorzüge transatlantischer Erzeugnisse vor Augen gestellt. „Coca Cola“, „Marlborogh“, „Test the West“. Geistige Getränke locken mit „Just take it“ oder sie bestimmen einfach: „You must“.
Immer wieder zeigen sich mitten im Steinigen weiß - lockende, von üppigem Grün umgebene Hotelanlagen.
„Was soll die aufdringliche US - Reklame? Wozu all die Luxus - Hotels in dieser Einöde?“ bricht der Deutsche das Schweigen.
In den Blick des Griechen tritt eine unvermutete Schärfe.
„Wir brauchen den Aufschwung. Von Weintrauben, Öl und Ziegenkäse kann unser Volk nicht existieren. Denken Sie an die Millionen Griechen, welche fern der Heimat leben, aus Not.“
„Was ist das für ein Aufschwung“, antwortet zögernd der Deutsche, „sich all diese Etablissements von Fremden ins Land stellen lassen und sich dazu noch zu erniedrigen zum Umschlagplatz für ausländische Waren? Haben die Griechen sich dafür mit so vielen Opfern von den Türken befreit?“
„Viele von uns halten die USA für ein Zwischending zwischen Schutzgeist und Glücksklee. Und nicht wenige glauben überdies, sie müßten sich wie Cowboys aufführen, um den Touristen zu gefallen.
Diejenigen aber von uns, die denken können, wissen es: Die Befreiung von den Türken hat uns bisher nichts weiter als die Fürsorge von anderen zweifelhaften „Freunden“ eingebracht. Zur Zeit sind diese „Freunde“ die USA. Was aber soll unser kleines Volk tun gegen all die fürsorglichen Großen? Was sollen wir ausrichten gegen eine Supermacht, die sich derzeit aufführt, als müßten sie von nun an für ewig die Welt regieren? Wo in unserer Umgebung glimmt nur ein kleiner Funken Widerstand, welcher uns ermutigen könnte?“
Kräftiger noch umfaßt der Fahrer das Steuer mit seiner Linken und nimmt die nächste Kurve, ohne die Geschwindigkeit zu senken. Sein weißes durch keinerlei US - Aufschrift geschmücktes Hemd verliert in dem trotz offenem Fenster sich verrichtenden Zigarettenrauch zunehmend an Farbe.
„An wen sollen wir uns halten?“ wiederholt der Grieche düster, „Etwa an die Deutschen?“
Er schweigt. Der Deutsche schweigt ebenfalls. Die Fahrt ist nun dergestalt beschleunigt, daß die Einzelheiten der begleitenden Farbtafeln nicht mehr auszumachen sind, daß sie im farblosen Einerlei des Landes wie Schemen auftauchen, um sogleich wieder zu verschwinden.
„Nein, nicht an die Deutschen,“ antwortet schließlich der Herr.
„Noch sind die Deutschen in der Umarmung unserer gemeinsamen „Freunde“ zu keiner für andere ermutigenden Bewegung fähig. Noch.“
Der Herr spricht so leise, als hätte er ein Geheimnis verraten, als hätte er etwas Verbotenes gesagt. Da der Grieche nicht mehr antwortet, wird es nicht deutlich, ob dieser die Worte verstanden hat.
Busunternehmer
Die einzelnen Ortschaften der griechischen Inseln sind durch Busverkehr Miteinander verbunden. Die Autobusse, grün - beige gestrichene Mercedeswagen, im Inneren noch immer mit deutschsprachigen Anweisungen wie z.B. „Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen“ versehen, verkehren häufig und sind in der Touristenzeit immer voll besetzt.
Auf einer der Inseln befindet sich das Transportunternehmen in privater Hand. Der Besitzer des einzigen Inselbusses, ein untersetzter Mann mit abweisenden Gesichtszügen, beginnt mit Anbruch des Tages seine Tätigkeit, um sie am Abend erst lange nach Einfall der Dunkelheit zu beenden. Unzählige Male fährt er auf staubigen Straßen über steinige Bergesrücken zwischen den Ortschaften der Insel hin und her. Tag für Tag bewältigt er viele Male die nach unseren Begriffen für einen Autobus viel zu engen Steilkurven, in welchen die Straße sich zu einem Kloster hinauf windet. Tag für Tag geht er dabei immer wieder mit unbewegten Mienen über laut geäußerte Befürchtungen seiner Fahrgäste hinweg, der Bus könne über die Stützmauern der Straße kippen und den Steilhang hinunter stürzen.
Direkt hinter ihm, mit einer schwarzledernen Schaffnertasche versehen, sitzt seine dunkelgekleidete Gattin. Mit Würde verläßt sie nach jeder Haltestelle ihren Platz, um von den neu Dazugestiegenen das Fahrgeld einzufordern. Die verschiedenartigen Fahrscheine sind auf einer kleinen Holzplatte befestigt. Nach dem Abtrennen werden sie mit einem Locher entwertet. Für die gezahlten Münzen gibt es Röhrchen von unterschiedlicher Größe. Für Geldscheine ist ein Extrafach in der schwarzen Tasche vorgesehen. Willig leisten die vielen fremden Fahrgäste ihren Tribut, die Älteren vielleicht mit Bildern von Zahlungsgebräuchen aus ihrer verlorenen Jugend vor Augen. Wenn zu manchen Zeiten die Fahrgäste sich so dicht im Inneren des Busses drängen, daß die Türen nicht mehr geschlossen werden können, kommt der ca. 14 - jährige Sohn der Familie zu Hilfe. Er ist es dann, welcher sich, die schwarze Tasche umgehängt, von Fahrgast zu Fahrgast zwängt, seine Scheu vor den Fremden immer wieder neu überwindend, jeden einzelnen in unbeholfenem Englisch nach seinem Reiseziel befragt, um ihm die entsprechenden Fahrscheine auszuliefern. An manchen Tagen muß der Junge während der gesamten Betriebszeit des Autobusses zugegen sein. Auch dann verrichtet er seine Arbeit mit tiefem Ernst in den Augen und achtet nicht der Anstrengung, welche ihm dabei im Gesicht geschrieben steht.
Sehr selten nur geschieht es, daß die Gleichförmigkeit der Tage durch Unregelmäßigkeiten wie die folgende unterbrochen wird:
Auf einer abschüssigen, von beiden Seiten durch Steine und Dornen bedrängten Inselstraße zeig sich ein dem Bus von unten entgegenkommendes Touristenauto nicht gewillt oder auch nicht imstande, zurückzusetzen, um dem schwerfälligeren Gefährt das Vorbeifahren zu ermöglichen. Der Busfahrer, will er den Fahrbetrieb nicht an dieser Stelle beenden, ist gezwungen, selbst die hinter ihm ansteigende Straße bis zu einer Ausweichstelle zurückzufahren. Er tut es schweigend mit dem ihm eigenen düster - verschlossenen Gesicht. Der Personenwagen setzt nach, wird aber, als er sich direkt neben dem Bus befindet, durch Zuruf bei diesem Vorhaben unterbrochen. Der Redestrom, welcher sich nun aus dem Busfenster hinaus auf die Insassen des Touristenfahrzeuges ergießt, ist von einer solchen Gewalt, daß nicht nur die Angeredeten, sondern auch die Fahrgäste des Redners, unabhängig davon, ob sie der Landessprache mächtig sind oder nicht, erbleichen. Man meint, seit Weltbestehen habe noch nie ein menschlicher Mund eine derartige Eruption hervorgebracht, sei noch nie ein überschaubarer Zeitraum gefüllt gewesen mit derart zahlreichen nicht nur auf einander folgenden, sondern auch gleichzeitig hervorgestoßenen Ausrufen, Worten und Sätzen. So urplötzlich aber, wie er ausgebrochen ist, versiegt der entfesselte Strom wie von unsichtbaren Abgründen aufgenommen. Der Personenwagen fährt von dannen. Der Busfahrer ergreift sein Steuerrad und setzt die Fahrt fort, als habe sich nichts Außergewöhnliches ereignet.
Fischer
Der gleißende Gott steht hoch am Himmel und hat mit seinen Pfeilen schon alles ringsum zum Glühen gebracht.
Ein Fischer ist mit seinem kleinen blau - weißen Fischerboot zum Fang ausgefahren. Gleichmütig durchzieht das Fahrzeug die Wasser des Meeres, dessen nachtdunkle Unergründlichkeit überschüttet ist von den aufblitzenden, verlöschenden und sich an anderer Stelle sogleich wieder neu entzündenden Funken. Küstenorte, hell schimmernd im grau - braunen Land, ziehen vorbei. Kahle, scharfkantige Wände steigen auf und verlieren sich in der Höhe. Insel um Insel kommt nahe und entwindet sich wieder dem von der Helligkeit geblendeten Blick.
Der Fischer, die Züge gezeichnet von Licht und Wind, handhabt das Steuer scheinbar ohne Bewegung und hat seine Augen zum Horizont gerichtet. Um ihn ist das immer gleiche Motorengeräusch seines Bootes, welches sich mischt mit dem Rauschen des Meeres und mit den allgegenwärtigen Klängen der griechischen Musik.
In brennendem Trotz steigen die scharfen Klänge der Bouzouki hinauf in den Glanz des Lichtes. In nie nachlassender Sehnsuchtskraft klagen die Lieder der Griechen in die Ferne, welche, kommt man ihr nahe, zu nichts zerrinnt, um wieder neue Sehnsuchtslieder zu entzünden.
Die Gäste, welche an der Fahrt des Fischers teilnehmen, schweigen und wünschen, diese Reise möge nie zu Ende gehen.
Das Mädchen
Bewegungslos sitzt die junge Griechin an der Reling eines Schiffes, welches unter dem heißen Atem des Gottes das dunkelfunkelnde Meer durchfährt. Ihre Hände halten das Schiffsgeländer umschlossen, so daß die weiten Ärmel ihres Obergewandes sich im warmen Sommerwinde blähen. So hindert sie es nicht, daß ihr halb dem Meere zugewandtes Gesicht von Schleiern ihres lang herabhängenden schwarzen Haares bedeckt wird. Es ist, als wolle sie das scheue Aufglühen nicht sichtbar werden lassen, welches die Blicke der Vorübergehenden immer wieder in ihrem jungen Antlitz entzünden. Es ist, als sei es für keinen der Umstehenden bestimmt, daß sie zuweilen ganz unmerklich lächelt.
Frauen
Die verheiratete Griechin lebt im Dienste der Familie. Sie hat weder Zeit noch Möglichkeiten, sich an Zusammenkünften und Tätigkeiten des Mannes zu beteiligen. Meist trägt sie schwarz.
Wird sie im Laufe ihres arbeitsreichen Lebens Witwe, so ist es ihr im Gegensatz zum Manne nicht gestattet, sich erneut zu verheiraten. Ihr dunkles Gewand wird zum lebenslangen Witwenkleid.
Wenn die Dunkelheit die weißgetünchten, blumen - und weinlaubumrankten Häuser in den engen Gassen Griechenlands einhüllt, wenn die Blütendüfte sich mischen mit den aus Perlenvorhängen hervorströmenden Speisegerüchen und denen der hier allenthalben umherhuschenden Katzen, wenn die Männer irgendwo auf den Dorfplätzen in den Tavernen lärmen, dann kommt auch für die griechischen Frauen die Stunde des Ruhens. All die Gassen und Gäßchen entlang sitzen sie dann einander gegenüber vor ihren Häusern, die Mütter, die Großmütter, die Greisinnen mit ihren schon erloschenen Augen. Die Strick - und Häkelarbeiten sind nicht mehr Selbstzweck, sondern sie begleiten nur den Gedankenaustausch über die Ereignisse und Empfindungen des zur Neige gegangenen Tages. Wenn ein Fremder des Weges kommt, wird das Gespräch durch ein mehrstimmiges, vielmals wiederholtes „Kali nichta, kali nichta“ mit allen Zeichen der herzlichen Freude über den Ankömmling unterbrochen.
Kaum können die Frauen einander sehen in der nur vom Silber Selenes erhellten Dunkelheit. Doch sie spüren einander. Sie atmen zusammen die erlösende Kühle, die betörenden Düfte der griechischen Nacht.
Kind
Hoch in den Bergen Griechenlands, zugänglich nur durch eine vielfach gewundene, von behindernden Steinen bedeckte Straße, liegt zwischen Dornenhecken, uralten, gegen Sonne und Wind unempfindlich gewordenen Pinien und verlassenen Weinbergen ein Dorf.
Es ist die Mittagsstunde, die Stunde, welche die Menschen in ihre Häuser treibt, um das Atmen der Götter nicht zu stören. Das Dorf ist menschenleer. Fenster und Türen der niedrigen, dicht ineinander gedrängten Behausungen sind wie für immer verschlossen. Auf der schmalen, abschüssigen Dorfstraße ist die Pflasterung teilweise herausgerissen. Überall liegen Abfälle, wer weiß, wie lange schon. Auf dem Dorfplatz unter den dichten Blättern der Platane stehen weder Tische und Stühle. Das kleine Schaufenster des einzigen Ladens zeigt kaum Auslagen.
Als der Mittag sich neigt, die himmlischen Strahlen den unteren Rand der Platane erreichen und, lange Schatten werfend, den Platz in ihr goldenes Licht tauchen, öffnen sich endlich Fenster und Türen. Alte Leute, langsam, gebeugt, oft von Krankheit gezeichnet, kommen heraus, sitzen ein wenig im Licht, schauen und gehen dann wieder zurück in ihre dunklen Räume. Nur wenige haben die Kraft zu bleiben.
Es öffnet sich auch die Tür des kleinen Ladens. Eine junge Frau stellt einen Stuhl ins Freie und bringt anschließend ihren etwa einjährigen Jungen heraus, um ihn darauf zu setzen. Der Kleine ist ein Kind des Landes, das runde Köpfchen voller dunkler Ringellocken, die schwarzen Augen gegen die Sonne, vielleicht auch in Abwehr gegen den ungewohnten Anblick der ihn teilnehmend betrachtenden Fremden verengt. Der Kindermund ist leicht geöffnet, noch unentschieden zwischen dem Bedürfnis zu weinen und dem Stolz, dieses nicht zuzulassen. Die Ärmel der rot - schwarz - karierten, mit Brusttasche und Knopfleiste versehenen Jacke fallen weit über die kleinen, kräftigen Fäuste, welche mit Energie und Besitzerfreude jeweils ein Stück Holz umfassen. Sein rechter Schuh fällt zu Boden. Die Mutter legt ihn mit auf den Stuhl, und das Kind nimmt die Fußbekleidung fest zwischen seine kurzen, von mehrmals umgeschlagenen Hosen bekleideten Beine.
„Wie kommt in dieses verlassene Dorf ein Kind?“ fragt die Fremde.
„Früher hatten wir viele Kinder. Jetzt haben wir nur noch dieses,“ ist die Antwort.
„Bis auf uns sind alle jungen Familien fortgezogen, an die Touristenstrände, nach Athen, ins Ausland. Auch mein Mann arbeitet anderswo in einer Taverne. Wir wohnen nur noch hier oben, weil wir hier ein Haus haben und Miete sparen können. Und jemand muß ja auch nach den alten Leuten sehen. Das Leben aber ist hier sehr, sehr schwer.“
Inzwischen hat der Kleine sich an das Licht gewöhnt, die Lust zu weinen ist vergessen. Die Mienen sind zugänglich geworden. Interessiert blickt er zu einer schwarz gekleideten Frau, welche gegenüber vor ihrer Haustür Platz genommen hat. Die beiden schauen sich an, und das Kind entzündet auf dem müden Gesicht der Frau einen hellen Widerschein.
Heimkehr
Am Sommerende liegen die Strände verlassen. Hier und da finden sich noch Hinterlassenschaften von Badenden und Fischern, Cola - Dosen, ein schadhaftes, umgestürztes Boot. - Einer dieser vereinsamten Strände ist an beiden Enden von aufgeschüttetem Gestein umschlossen. Hinter dem Strand steigt das dicht mit Dornengestrüpp bewachsene Land steil empor, nur durch einen schmalen Pfad zu begehen.
Still liegt das Meer. Sanft scheint es mit kaum merklichen Sichheben und - senken der Wasserfläche zu atmen. Wie abwesend umspielen sich die weiß, grau und blau aufschimmernden Linien und Streifen. Von fern her leuchtet und schmeichelt das wärmende Licht und umgibt das Auge mit seinem Glanz, wie, um es einzuladen, ebenfalls Licht zu werden, Wärme zu werden, ein weiß - grau - blauer in der Ferne aufstrahlender Schimmer. Es lockt das Licht den Menschen zu kommen und des Harten, des Dornigen, des Schmerzenden für immer zu vergessen. Unter dem einzigen Baum des Strandes sitzt etwas zusammengesunken, den Blick auf das vor ihr ausgebreitete Meer gerichtet, eine einsame Gestalt. Es ist eine offenbar schon ältere Frau. Freundlich antwortet sie der Fremden auf ihre Fragen, z.B., woher sie denn ihr fließendes Englisch habe.
„Als kleines Kind mußte ich wie so viele von uns mit meiner Familie auswandern in die USA. Es gibt ja so wenig Verdienstmöglichkeiten in unserem steinigen Land. Ich hatte keine Wahl. So habe ich mein Leben in der Fremde verbracht, mit den Fremden gelebt, einen fremden Mann geheiratet. Meine Kinder sind keine richtigen Griechen. Nun ist mein Mann verstorben, die Kinder sind selbständig geworden. Ich könnte, wenn ich wollte, in die Heimat zurückkehren. Wohin wird es mich treiben, jetzt, da mein Leben sich zu seinem Ende neigt?“
Auch, nachdem die neugierig Fragende sich verabschiedet hat, schaut die Frau noch lange über das schimmernde Ägäische Meer, das kräftige, aber von Mühen gezeichnete Gesicht, das noch dunkle, volle Haar umglänzt vom hellen Lichte der Griechen.
B I L D E R V O M E I N S T
Was ist alles geschehen, daß Hellas zu dem wurde, wie wir es heute vorfinden?
Betrachten wir nun Bilder, die wie Fenster sind zu dem, was war, zu denen, die im Laufe all der Jahrhunderte hier ihren Wohnsitz nahmen und das Ihre dazu beitrugen, aus Hellas das heutige Griechenland zu machen.
Vor einem halben Jahrhundert kamen
Br i t e n u n d D e u t s c h e
Kreta, Mai 1941
Manch einer der deutschen Kretareisenden mag noch den Bildband aus dem Kriege kennen: Kreta, Sieg der Kühnsten, Vom Heldenkampf der Fallschirmjäger, herausgegeben vom Fliegergeneral Student im Jahre 1942. Der Einband ist in den Tarnfarben der Deutschen Wehrmacht gehalten. Ein eichenlaubumkränzter Adler, im Sturzflug begriffen, ein Sonnenrad in seinen Fängen, ist in die Mitte eingestanzt worden. Hält man heute solch ein Buch in der Hand, so sind die Farben des Einbands verblaßt, der Adler vom vielen Gebrauch abgegriffen. Da letztlich die anderen die Sieger geblieben sind, ist das Buch in Buchhandlungen nicht mehr erhältlich. Die Deutschen wagen sich der Bilder ihres siegreichen Kampfes um die Insel Kreta nicht mehr zu erinnern. Die alten Fotos erscheinen wie verloren in den Tiefen der Zeit.
Am 20. Mai 1941 waren Tausende von jungen Fallschirmspringern über Kreta abgesprungen, um die Briten, welche sich nach dem Verlust des griechischen Festlandes hierher zurückgezogen hatten, auch noch von der Insel zu vertreiben. Ort und Stunde des Absprunges, so heißt es, seien verraten worden. Viele der wehrlos an den Fallschirmen Hängenden haben daher den Boden Kretas nicht mehr als Lebende berührt. Viele der im Unwegsamen Gelandeten sind von griechischen Partisanen, welche im englischen Auftrage arbeiteten, überfallen und auf außerordentlich unsoldatische Weise getötet worden.
Am folgenden Tage sollten den Fallschirmspringern von Gebirgsjägern Hilfe zukommen. Diese konnten aber nur mit Transportflugzeugen vom Festland her nach Kreta gebracht werden. Die Flugzeuge waren gezwungen, den einzigen Fluglandeplatz der Insel beim Dorfe Malemes an der Nordküste anzufliegen. Sie landeten mitten im feindlichen Feuer.
Mit der Unterschrift, “Gebirgsjäger fliegen über das Meer, fertigmachen, Kreta in Sicht“ zeigt ein Foto des erwähnten Bildbandes das Innere eines solchen „Ju“ genannten Transportflugzeuges. Im Vordergrund sitzen zwei Soldaten, welche der Landung entgegensehen. Der hintere von beiden hat sich soweit wie möglich nach vorne gebeugt, um das näher kommende Land besser überblicken zu können. Er ist nicht mehr jung. Dennoch liegt ein jungenhafter Mut in seinem scharfen Blick, über seinen hageren Zügen. Die Hand hat er, um sich abzustützen, zur losen Faust geschlossen auf das Knie gelegt.
Vor ihm sitzt sein junger Kamerad, aufrecht, die noch kindlichen Bubenaugen nicht auf das unter ihm ausgebreitete Land, sondern durch das gegenüberliegende Fenster in den heißen Himmel gerichtet. Es ist, als habe der Junge jetzt, wo es ernst wird, die Angst überwunden, sei aber nun verloren in einer in dieser Welt nicht mehr zu heilenden Trauer. Seine Hände, die Rechte die Linke bedeckend, liegen ausgestreckt auf dem Schoß.
In einem Bericht der Kretakämpfe werden die Landungen der Gebirgsjäger wie folgt beschrieben:
„Die Gebirgsjäger stiegen in die hitzeflirrenden Maschinen. Je sechs in zwei Reihen einander gegenüber. Die Hitze in den Maschinen betrug bis zu 60 °.
Jemand schlug die Schiebetür der vordersten Ju 52 zu. Die zwölf Männer in der Ju waren allein. Motoren brüllten auf. Die Maschinen starteten, hoben ab und schwebten der See entgegen. ....
Als die Maschinen aus dem Tiefflug emporzogen, weil südlich ein langgezogener Wall aus Felsen auftauchte, da wußten die Gebirgsjäger: das ist Kreta.
Unter den Gebirgsjägern war wieder Land. ...Dann tauchte linkerhand unter ihnen eine rötliche Fläche auf, wie ein Tennisplatz anzusehen: Malemes. Dort sollten sie landen. - „Fertigmachen!“
Mit einer Steilkurve stieß die Maschine herunter.
„Festhalten!“ brüllte einer, und dann setzten die Motoren aus. Der Boden kam näher, ein paar hüpfende Sprünge und dann ein harter Ruck.
„Raus, Mannder!“ brüllte die Stimme des Bataillonskommandeurs.
Die Schiebetür rollte zurück, eine dichte Staubwolke empfing die herausspringenden Gebirgsjäger. Und auf einmal prasselte es in den Flugzeugrumpf hinein. MG - Salven krachten, Seitenleitwerk und Rumpf der Maschine wurde von Löchern durchsteppt. Granaten krachten in den Platz hinein. Jaulend zogen andere über die Köpfe der Männer hinweg, die im Laufschritt über das Feld stürmten. Sie liefen beinahe in eine andere landende Ju 52 hinein, die eben rechts von ihnen aufsetzte und eine dunkelrote Schleppe aus Flammen hinter sich herzog. Und während das rotlodernde Phantom vorbeirollte, sprangen schon Männer aus den offenen Türen heraus, überschlugen sich, kamen wieder hoch und dann knallte die Ju 52 am Platzrande auseinander.
Die Überlebenden aber rannten, rannten, rannten. Einige erreichten den Straßendamm mit seinen Agaven- und Kakteendickichten und waren gerettet.“
Franz Kurowski, Der Kampf um Kreta, Anixi, Griechenland, 1995, S. 78f.
Kriegsgräberstätte
Schwer lastet das graugleißende Licht über der Insel. Lebendes erscheint wie für immer erstorben.
Zwischen verbrannten Wiesen und durstenden Olivenhainen führt vom Dorfe Malemes aus eine schmale Straße hinauf zur der Anhöhe, welche, in deutschen Wehrmachtsberichten als Höhe 107 bezeichnet, einst Schauplatz der erbittertsten Gefechte gewesen war. Hier befindet sich der Soldatenfriedhof Malemes, Ruhestätte für die auf Kreta gefallenen Deutschen.
Das weite, von zartrötlichen Mittagsblumen bedeckte Gräberfeld ist von einer Mauer eingefaßt. Hier und da stehen Gruppen niedriger, grausteinerner Kreuze. Ab und zu wächst an den langen geraden Wegen mit breiter Krone ein schattenspendender Baum. An der dem Meere zugewandten Mauer steht ein hohes hölzernes Kreuz. In immer gleichen Abständen sind flache steinerne Tafeln in den Boden eingelassen, auf denen jeweils zwei Namen mit den dazu gehörenden Geburts- und Todesdaten verzeichnet sind.
Gefreiter HanS BrinkER 27. 2. 1921 ° 20. 5. 1941
Gefreiter Felix Jakob 23. 11. 1920 ° 20. 5. 1941
heißt es z.B. auf einem der Steine.
Tausende sind es, die hier begraben liegen, kaum einer älter als 25.
Auf einer weiteren an der Mauer befestigten Metalltafel sind die Namen der 344 Soldaten aufgeschrieben, welche beim Versuch, Kreta zu Wasser zu erreichen, vor dem Feind blieben und nun in den Tiefen des Meeres begraben liegen. Viele von ihnen wurden ebenfalls vom Feind in unkriegerischer Weise zu Tode gebracht.
Wer waren sie, unsere jungen Soldaten von damals? Was haben sie empfunden während ihres harten Kämpfens, dessen Ziel ihnen so viel höher und größer erschienen sein muß als der Erhalt des eigenen Lebens? Trifft auch auf sie zu, was einmal über die in der Ilias geschilderten Kämpfe um Troja geschrieben worden ist?
„Homer läßt keinen Zweifel an der grundsätzlichen Gefährdung, die das Leben schlechthin bedeutet. Gerade in der Gefährdung wird für ihn Leben unmittelbar sichtbar. Die Kämpfe vor Troja werden für ihn nicht wegen des schieren Vergnügens an Krieg, Abenteuer und Heldentum geschildert. Vielmehr sind alle Schilderungen letztlich nur Beispiele dafür, daß alles, was sich mit Wert und Substanz verbindet, Einsatz bis zum letzten erfordert, bis zum Tod. ...Die obersten Werte, die Realisierung des Menschen in seinen besten Möglichkeiten, das Erhabene, Göttergleiche, Schöne, sind der Bedrohung und der Vernichtung weit stärker ausgeliefert als etwa die Verwirklichung des mediokeren Behagens, das in der neuen Zeit so oft mit dem Glück vergilbter Poesiealben gleichgesetzt wird.“
Hellmut Diwald, Die Großen Ereignisse, Fünf Jahrtausende Weltgeschichte in Darstellungen und Dokumenten, Lachen am Zürichsee, 1990, 1991, Bd. I, S. 187
Steht man unter dem heißen Himmel Kretas vor den Gräbern unserer besten, so mischt sich in die Trauer um ihr Sterben etwas, welches sich in der Nachbarschaft unserer heutigen Begriffe von Krieg, Kampf, Leben und Tod sehr fremd ausnimmt: Bewunderung und ein Hauch von Neid.
Hafenmole
Am Ende der breiten, weit in das Meer hinausgebauten Hafenmole von Herakleon, der kretischen Hauptstadt, stehen ein schon zu Jahren gekommener Grieche und eine junge Deutsche beisammen.
„Was denken die heutigen Griechen über die Deutschen von damals?“ fragt die Deutsche, fern der Heimat vorübergehend von den ihrem Volke auferlegten Frageverboten entbunden.
„Wir, damit meine ich nicht alle, aber doch manche von uns, denken gut über die Deutschen“, antwortet der Grieche.
„Wir haben uns damals von den Engländern gegen die Deutschen aufhetzen lassen. Tausende von unseren Soldaten wurden von den Briten zum Einsatz gegen die Deutschen gezwungen. Wieviele unserer besten sind gefallen. Außerdem wurden die Fähigkeiten unserer Partisanen von den Briten nur benutzt, um die eigenen Leute zu schonen. Die Deutschen dagegen haben wir nicht nur als unsere Gegner, sondern auch als tapfere, anständige Soldaten erlebt. Mein Vater hat einmal drei Deutsche, welche vor den Engländern auf der Flucht waren, mehrere Tage bei sich versteckt gehalten. Wenn man derzeit auch nicht darüber spricht, glauben Sie es mir: Die Deutschen haben noch viele Freunde in der Welt. Auch unter uns Griechen.“
„Schön, daß Sie das sagen“, entgegnet das Mädchen. Dann schauen beide, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, stumm über das Meer, dessen Wellen mit immer gleicher Kraft aufschäumend gegen die Hafenmauer schlagen.
Vor einem halben Jahrtausend waren es die
T ü r k e n
welche in Griechenland einfielen. Nachdem die Türken im Jahre 1453 Byzanz eingenommen hatten, kostete es sie kaum Aufwand, die damals in Griechenland ansässigen Venezianer und Nachkommen von Kreuzrittern zu vertreiben. Die griechische Bevölkerung war nicht in der Lage, Widerstand zu leisten.
Die nun folgende Türkenzeit gestaltete sich für die Griechen zur härtesten Bedrückung, welche sie im Laufe ihrer langen Geschichte durchleben mußten. Unfähig, den eroberten Gebieten ein neues Gesicht zu geben, beuteten die neuen Machthaber das Land lediglich für ihre Zwecke aus und verursachten, wohin sie kamen, Erbitterung und Öde. Unzählige Griechen versanken in Armut. Diejenigen, welche die Härten der Besatzer nicht ertrugen, zogen sich als Besitzlose, als sogenannte „Klephten“, in die unwegsamen Schluchten und Berge zurück. Fast alle der noch vorhandenen Wälder wurden abgeholzt. Das Land bekam endgültig sein todkrankes, nicht mehr zu heilendes Gesicht.
Diese Art der Unterwerfung dauerte 300, in vielen Teilen Griechenlands auch 400 Jahre.
Daskalojannis
Auf Kreta hatten sich Hunderte von Klephten in die wilden Schluchten und Täler Westkretas, in die Sfakia zurückgezogen. Von dort aus machten sie den Landfremden mit Raubzügen und Überfällen schwer zu schaffen.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zum russisch - türkischen Krieg. Die türkische Kriegsflotte wurde von den Russen vernichtet. Die Griechen witterten Freiheitsluft. Mancherorts kam es zu Aufständen. Auf Kreta stellte sich der Lehrer Jannis Vlados, Daskalojannis genannt, an die Spitze der aufständischen Klephten und stattete sie auf eigene Kosten mit Waffen aus. Den Türken wurde das Leben auf Kreta nahezu unerträglich. Daskalojannis nahm Verbindung mit den Russen auf. Würden die Glaubensbrüder zu Hilfe kommen? Die Westeuropäer aber wünschten auf Dauer keine russischen Schiffe im Mittelmeer, schon gar nicht in den Häfen von Kreta. Sie stellten sich auf die Seite der „Ungläubigen“, der Türken. Die Russen sahen keine Möglichkeit, den Griechen zu Hilfe zu kommen.
So luden die wieder ermutigten Türken den Führer des kretischen Aufstandes zu Friedensverhandlungen in die kretische Hauptstadt ein. Daskalojannis vertraute den Türken. Er kam und fand sein Ende.
Auf einem kleinen Platz in Herakleon steht heute sein marmornes Denkmal mit der Aufschrift:
„Er kam aus der Sfakia,
war Führer des Kampfes gegen die Türken 1770,
wurde hier gehäutet am 17. Juni 1771.“
Das Denkmal zeigt den an dieser Stelle so grausam Getöteten in seiner Landestracht. Aus der breiten, den Leib umschließenden Schärpe ragen die Handgriffe zweier Pistolen. Um die Schultern liegt ein Umhang. Das ernste Gesicht ist gerahmt von Haar und Bart, das Haar von einer flachen Kappe bedeckt. Mit steinernen Augen, welche den Tod nicht mehr zu fürchten brauchen, blickt der Führer des ersten kretischen Freiheitskampfes durch die ihn umgebenden Bäume und Häuser hindurch zu den fernen weißen Bergen der Sfakia.
Die Höhle von Milatos
Ermutigt durch diejenigen Europäer, welche in den unterjochten Griechen die Nachfahren der so bewunderten Hellenen vermuteten, kam es im Jahre 1821 in ganz Griechenland zum Aufstand gegen die türkischen Besatzer. Die müde gewordenen, zum „Kranken Mann am Bosporus“ herabgekommenen Türken holten ihre ägyptischen Vasallen zu Hilfe. Diese kamen, erlagen aber naturgemäß der Versuchung, das zu erobernde Land gleichzeitig als künftiges Eigentum zu betrachten. Sie hielten die Rebellen nicht nur nieder, sondern rotteten aus, was sie an Lebenden antrafen. Es sollten Gefügigere in Griechenland angesiedelt werden.
Hoch in den kahlen, rötlich - braunen Bergen Ostkretas nahe der kleinen Ortschaft Milatos öffnet sich an einer steil abfallenden Wand der Eingang zu einer Höhle, welche in langen aber kaum mannshohen Gängen tief in den Berg hineinreicht.
Im Februar des Jahres 1823 haben sich auf steilen, unwegsamen Pfaden an die 3000 Frauen und Kinder vor den blutdürstigen Eindringlingen in die Höhle geflüchtet. Nur wenige Männer waren mit ihnen, um die Wehrlosen zu schützen. Die „tapferen Muselmanen“ folgten, richteten sich auf dem gegenüberliegenden Bergeshang ein und schossen, was die Rohre hergaben. Noch sieht man die Einschußlöcher im Gestein. Die wenigen Griechen, hinter dem Höhleneingang verborgen, feuerten zurück, bis ihre Munition zur Neige ging. Die Menschen in den feuchtkalten Höhlentiefen brachten ihre Tage und Nächte hin, solange die mitgebrachten Vorräten reichten. Nach Wochen waren die Vorräte, die Kräfte und der Durchhaltewille erschöpft. Die Sieger zerrten aus den dunklen Gängen hervor, was noch am Leben war. Die Männer wurden allesamt erschossen. Frauen und Kinder, welche als Sklaven Gewinn versprachen, wurden fortgeschafft, der Rest in die Schlucht unter der Höhle geworfen.
Zur Höhle von Milatos führt heute ein befestigter Weg. Gleich hinter dem Eingang werden die aus der Schlucht geborgenen Überreste der Getöteten hinter Glas aufbewahrt, von altersbraunen Kränzen umgeben. Tief im dunkelfeuchten Höhleninneren, erhellt von verborgenen Lampen und brennenden Kerzen, steht ein kleiner Altar, wo sich außer schaulustigen Touristen immer wieder Griechen einfinden, um zu beten.
Kleinasien
Die Hellenen hatten nicht nur das griechische Festland und die ägäischen Inseln besiedelt, sondern auch die kleinasiatische Küste. Alles das, was wir bei den Hellenen so sehr bewundern, war in den Kolonialstädten Kleinasiens wie Ephesos oder Milet in überreichem Maße vorhanden.
Die Türken waren schon im Laufe des 14. Jahrhunderts in Kleinasien eingefallen, also noch bevor sie Byzanz und Griechenland erreicht hatten. Die kleinasiatischen Griechen wurden nicht nur unterdrückt, sie wurden zur Minderheit.
Die Sieger des Ersten Weltkrieges bereiteten schließlich dem Großreich der Türken ein Ende. Alles wurde diesen genommen bis auf Kleinasien, wo die Sieger den Griechen lediglich gestatteten, die mehrheitlich von Griechen bewohnte Stadt Smyrna in Besitz zu nehmen. Hier aber leisteten die gedemütigten Türken noch Widerstand. Es kam zum griechisch - türkischen Krieg, in dessen Verlauf die euphorisch gewordenen Griechen in fester Erwartung eines Sieges nun nicht nur Smyrna, sondern auch Istanbul, das ehemalige griechisch - christliche Byzanz beanspruchten. Istanbul - Byzanz war das östliche Tor zum Mittelmeer, welches die Westeuropäer nicht in starker, sondern in schwacher Hand wünschten. Sie wechselten sogleich die Fronten und die Griechen verloren den mit so hohen Erwartungen geführten Krieg.
In der darauf folgenden Friedenskonferenz wurde von den Westeuropäern die erste „ethnische Säuberung“ dieses an Säuberungen reichen Jahrhunderts beschlossen. Die im befreiten Griechenland noch verbliebenen Türken sollten in die Türkei, die kleinasiatischen Griechen, es waren über eine Million, nach Griechenland umgesiedelt werden. Beide zu Todfeinden gewordenen Völker gingen mit Gründlichkeit ans Werk.
Von Generation zu Generation werden in Griechenland bis zum heutigen Tage die Berichte der so grausam aus Kleinasien vertriebenen Landsleute weitergegeben. Noch heute singen die Nachfahren der damals Verjagten ihre trostlosen Lieder.
L a n d k a r t e
Die der kleinasiatischen Küste am nächsten gelegene Insel ist Samos. An einigen Stellen kommt die Insel dem Nachbarkontinent so nahe, daß man meint, ihn schwimmend oder doch mithilfe eines Ruderbootes erreichen zu können. Von den samischen Bergen aus können die Griechen weite Teile der kleinasiatischen Küste überblicken. Irgendwo im Dunst verborgen liegen die weltberühmten Ausgrabungsstätten von Ephesos.
Seit kurzem gibt es auf Samos ein Museum für die Geologie und Paläontologie Griechenlands. Seltene Steine und auf Samos gefundene Skelettreste prähistorischer Tiere sind in einer überaus gepflegten Umgebung ausgestellt.
Im Gästebuch haben sich bereits Besucher aus verschiedenen Teilen der Welt eingetragen. Ein kulturelles Zentrum für Exponate noch weiterer Wissenschaften ist geplant.
An der Pforte des Museums liegen Landkarten zum Mitnehmen aus. In hellem Gelb erscheint die kleinasiatische Küste mit den ihr vorgelagerten Inseln auf blauem Grund. Städte und Inseln tragen die Namen, welche ihnen einst die Hellenen gegeben hatten, und jene sind mehrheitlich mit kleinen weißen Schildern versehen. Namen und Lebensdaten all derer, welche hier einst lebten und als Künstler oder als Wissenschaftler die Kultur des Abendlandes begründeten, sind eingetragen.
z.B. EPHESOS:
HERAKLITOS (535-474 V.C.)
Großer Philosoph
„Alles fließt“
oder MILET:
THALES ( 643-548 V.C.)
Einer der Sieben Weisen.
Astronom, der Vater der theoretischen Geometrie
ANAXIMANDROS (610-547 V.C.)
Astronom, Mathematiker und
Philosoph, der Vater der
Lehre von der Evolution
Die in Griechenland und unter seinen Touristen schon zu einiger Verbreitung gelangte Landkarte trägt folgenden Titel:
„DIE VÄTER ALLER KÜNSTE UND WISSENSCHAFTEN SIND GRIECHEN“
Die von den Türken vertriebenen
V e n e z i a n e r
w
aren im Jahre 1204 mit den Kreuzrittern ins Land gekommen.
Die Venezianer hatten einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen dazu benutzt,
das gläubige, in seiner Mächtigkeit aber außerordentlich störende Byzanz zu vernichten und im östlichen Mittelmeer ein eigenes Handelsimperium zu errichten. Die nun überall in Inselgriechenland entstehenden venezianischen Renaissancebauten waren von einer solchen Pracht, wie sie dieser Teil der Erde seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Viele dieser Bauten, wenn auch angegriffen von der Zeit, stehen bis heute.
Geländer
Die kunstreichen Villen der venezianischen Kaufleute, Ergebnisse glücklicher Handelsgeschäfte mit den Metropolen des entmachteten und zerstückelten byzantinischen Kaiserreiches, standen auch in Thera auf der Insel Santorin.
Im Jahre 1956 aber wurde ein großer Teil des Ortes Thera und mit ihm viel Venezianisches von einem Erdbeben zerstört. Die Spuren des Erdbebens sind bis zum heutigen Tage nicht beseitigt worden.
Am Rande eines solchen Ruinengeländes, dort, wo der Kraterrand zur Caldera hin abstürzt, stehen die Überreste eines kunstvoll geschmiedeten Geländers, wie es die Terrasse eines venezianischen Patritzierhauses geschmückt haben mag. An den Seiten ist das Geländer von Eisenstangen abgestützt, rings von hartem, aus den Rissen des Marmorfundaments herausdringenden Gras umwachsen. Der Mittelteil des Geländers ist derart herausgebrochen, daß die im Gegenlicht wie geschmolzenes Blei glänzende Caldera nicht nur den Hintergrund abgibt für die zart - dunkle Silhouette des noch verbliebenen Zierats, sondern daß ihr düsterer Glanz das zerbrochene Andenken an venezianischen Kaufherrenstolz gänzlich in sich aufgenommen hat.
Vor rund ein und ein halb Jahrtausenden wurde Hellas nicht von Menschen heimgesucht und besetzt, sondern von einem fremden Gott. Diese Besetzung erwies sich als die dauerhafteste.
D e r f r e m d e G o t t
Bevor die Venezianer ins Land kamen, war Griechenland für viele Jahrhunderte eine abgelegene, für jegliche Art von Einwanderungen offene Provinz des oströmischen, d.h., des Byzantinischen Kaiserreiches.
Byzanz bezog seine geistige Stärke aus den Lehren des Christentums. Rigoros verdrängte der christliche Kaiser die angestammten Götter seiner Untertanen und zwang ihnen den aus Wüstenlanden stammenden fremden Gott auf. Auch in Griechenland war das möglich, weil die Hellenen zu dieser Zeit schon lange ihre Kraft verloren hatten und ihre alten Götter nicht mehr verteidigen konnten.
Die Grotte des Johannes
Der fremde Gott kam zunächst nicht unwidersprochen. Die zur Zeit seines Einzuges in die Mittelmeerwelt noch ungeteilten Römer empfanden ihn als Reichszerstörer und verfolgten seine Anhänger mit allen ihren Kräften.
Einer dieser Anhänger, ein Greis mit Namen Johannes, suchte damals Schutz vor seinen Verfolgern auf der Insel Patmos. Auf Patmos stand zu dieser Zeit noch ein Tempel der Artemis. Der vor den rächenden Erynnien bei der Göttin Zuflucht erhoffende Orestes soll ihn einst errichtet haben. Erhoffte der bedrängte Greis etwa ebenfalls Beistand von der Göttin? Wir wissen es nicht. Johannes berichtet uns nur, was ihm sonst auf Patmos geschah:
„Ich geriet.... in Verzückung und hörte hinter mir eine starke Stimme wie von einer Posaune, die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch.“ (Offenbarung des Johannes 1,11
Der fremde, für Menschenaugen unsichtbare Gott, welcher Welt und Menschen trotz deren Unzulänglichkeiten als seine ureigenste Schöpfung erklärte, zeigte dem erschreckten Greis, was er, der Allgewaltige, der Alleinige seinen Geschöpfen sichtbar zu machen für tunlich hielt: Von seinem Thron gehen ununterbrochen Stimmen, Blitze und Feuer aus. Vier, ehemals stolze, selbstherrliche Wesen, ein Löwe, ein Stier, ein Mensch und ein Adler umstehen den Thron, „kennen keine Ruhe und sprechen Tag und Nacht: 'Heilig, heilig, heilig ist der Herr', der allmächtige Gott, der war und der ist und der kommt.“ (Offb. 4,8)
Diese Art der Huldigung aber ist dem Gewaltigen nicht genug. Er will seine Herrlichkeit von allen seinen Geschöpfen bestätigt haben. Daher war er den Sterblichen als Sterblicher, als „Sohn“ seiner selbst, erschienen. Zunächst hatte er den Verängstigten ihre Verwerflichkeit vor Augen geführt, ihnen aber anschließend ein Angebot gemacht, welches er nun vor Johannes noch einmal ausdrücklich wiederholte: Diejenigen, welche die ihnen anerschaffene Menschennatur mit all ihren Rissen und Sprüngen abzustreifen willens waren, würden Teilhaber werden am Strahlenkranze der göttlichen Herrlichkeit. Zum Zwecke des ununterbrochenen Lobpreises sollten sie Bürger werden in des unsichtbaren Gottes Wohnstatt, im edelsteinfunkelnden, kristallklaren Jerusalem. Ablehnenden aber, denjenigen, welche bockbeinig an dem, was sie nun einmal hatten, nämlich an ihrer Menschennatur, festhielten, denen drohte der Unsichtbare Furchtbares an: Als Feiglinge, als Ungläubige, als Befleckte, als Mörder, als Unzüchtige, als Zauberer, als Götzendiener und als Lügner sollten sie in einen eigens für sie bereiteten Feuersee geworfen werden, welcher ab nun von Ewigkeit zu Ewigkeit von Feuer und Schwefel brennt. (Offb. 21, 8)
Die Legende berichtet, daß Johannes sich zum Zwecke des weiteren Schauens und Niederschreibens in eine Felsenhöhle der Insel begab, wo er sich vor den Berührungen des sichtbaren Himmelsgottes sicher glaubte. Diese Höhle ist nun all denen, welche sich dem unsichtbaren Gott des Schreibers ergebenen haben, bis zum heutigen Tage ein geheiligter Ort.
Den Blick noch durchtränkt vom Lichte des Himmlischen, steigt der Besucher die vielen engen Stufen des Höhlenklosters der Apokalypse hinab. Blumenranken, welche auf den weißen Wänden schwankende Schatten werfen, begleiten den von Bögen überdachten, zunehmend kühler und verhangener werdenden Weg. Mit düsterem Ernste wird der Eintretende dann in der zur Kapelle gestalteten Grotte des Johannes umfangen. Zunächst werden die Blicke zu dem Ort gelenkt, wo der Heilige einst vom Schauen und Schreiben ausgeruht haben mag. Ein aus dem Boden tretendes Felsenstück könnte sein ermattetes Haupt getragen haben. Ein etwa handgroßer Spalt in der angrenzenden Felswand, vom Liegen aus mit gestrecktem Arm zu erreichen, mag dem Seufzenden beim Aufrichten aus der Ruhelage behilflich gewesen sein. Die heilige Stätte, um sie vor allzu abnutzender Verehrung der Gläubigen zu bewahren, ist durch ein goldenes Gitter geschützt.
Hebt sich der Blick, so trifft er auf den tief herabhängenden Höhlenfels, welcher, wie die Legende berichtet, durch die Gewalt der göttlichen Stimme einst in drei Teile zerspalten wurde und nun wie schweres Gewölk alles unter ihm Befindliche zu erdrücken droht. Dicht gedrängt aber stehen hier Tag für Tag die meist von weit übers Meer gekommenen Frommen, der Blick verhangen zwischen Bangigkeit und Sehnen.
Pantokrator
Der „Sohn“, die Gestalt, in welcher der Unsichtbare seinen Geschöpfen sichtbar geworden war, ist des Unsichtbaren Abbild und gleichzeitig der Unsichtbare selbst. Wer wollte da zu räsonnieren wagen?
Er, der Allgewaltige, ist Raum und Zeit nicht unterworfen. So ist er sich immer gleich. So kann auch sein Abbild weder durch Raum noch durch Zeit gewandelt werden. Wo immer man im christlichen Osten ein Gotteshaus betritt, blickt der „Sohn“ als der Allesbeherrscher, als der „Pantokrator“ in immer gleicher Weise aus goldener Himmelskuppel auf sein Gottesvolk herab. Mönche, welche, sich selbst entrückt, fähig wurden, das Unnahbare, das Un - menschliche des „Sohnes“ zu erspüren, haben, ohne je Eigenes hinzuzufügen, diese Abbilder des Unsichtbaren gemalt.
Unter schweren Lidern, aus geheimnisvollen Tiefen schauen die Augen des Allherrschers aus fremder Ferne, ohne mit dem, der in ihnen Trost sucht, eine Verbindung aufzunehmen.
Allein das dunkle Haar, der dunkle Bart, die abwärts gerichteten Winkel des schmalen Mundes sowie die tiefen, das hagere Antlitz durchziehenden Falten weisen auf den von unten Schauenden in düsterer Mahnung. Von dem in weite Gewänder gehüllten Leib sind nur die zerbrechlichen Hände sichtbar. Die Rechte formt mit Daumen und Ringfinger ein Kreuz. Die Linke hält das bis zu der Welt Ende für menschliches Denken und Sinnen allein maßgebliche Buch.
Wer aber aus dem Dunkel des Kirchenraumes zu diesem hier aufschaut, hat es leicht, für eine Zeit seiner ruhelosen Menschennatur zu vergessen, um sich empor zu tasten zu dem, welcher für ewig ruht. Wer hier allein steht unter der schimmernden Himmelskuppel des Reinen, dem wird ohne sein Zutun alles Unreine seines Wesens zu Nichts für eine kleine Zeit. Wer sich hier hinaufsehnt in die golddämmrige Höhe des Ewigen, der mag es spüren für einen Augenblick, das kristallklare, das goldstrahlende Jerusalem.
Zerstörer
Als der neue Gott gesiegt hatte, wurden seine Anhänger von Verfolgten zu Verfolgern. Vor allem in der oströmischen - byzantinischen Provinz Achaia, in Griechenland, wurde das, was bisher das Gute gewesen war, zum Bösen und das bisher Böse zum Guten erklärt. Die Tempel wurden entweder in Basiliken umgewandelt oder sie wurden abgerissen, um an Baumaterial für weitere Basiliken zu gelangen. Die Götterbilder wurden zerstört. Unzähligen Skulpturen wurden die Köpfe abgeschlagen, die Gesichter zertrümmert oder wenigstens auf gewaltsame Weise die Nasen entfernt.
Heraion
Der am meisten bewunderte Tempel der Hellenen war der Tempel der Göttermutter Hera auf der Insel Samos. Mit seinen Säulen, welche doppelt so hoch waren wie die Säulen des Parthenons, war der Tempel des samischen Heraions der größte in Hellas. Der Eindruck muß überwältigend gewesen sein.
Für rund ein Jahrtausend bewohnte die mütterliche Göttin ihr gewaltiges Haus, spendete allen, die kamen, Hilfe, Heilung und Lebensmut. Immer wieder neue Machthaber schlugen auf Samos ihre Wohnsitze auf, herrschten über die Inselbevölkerung, ein jeder auf seine Weise. Keinem von ihnen aber kam es in den Sinn, das Heiligtum der Göttin ernsthaft anzutasten. Im Gegenteil brachten sie alle der Göttin ihre Verehrung dar, indem sie den Tempelbezirk weiter durch eigene Bauten verschönten. Die Zerstörungen der häufigen Erdbeben wurden immer wieder beseitigt.
Erst mit Erscheinen des neuen Gottes begann die heilige Stätte zu veröden, blieb das vom Erdbeben Zerstörte für immer liegen. Schließlich tauchten an den Inselstränden Transportschiffe aus der Hauptstadt des christlichen Reiches auf. Der Tempel, soweit er den Erdbeben noch standgehalten hatte, wurde bis auf eine einzige Säule eingerissen und das gewonnene Baumaterial nordwärts verschifft. Die Inselbevölkerung mußte sich aus den zurückgelassenen Trümmern auf dem heiligen Gelände eine eigene Basilika errichten. Das bronzene Standbild der Göttin wurde ebenfalls in die Hauptstadt gebracht, um es dort zum Beifall der Bevölkerung zuschanden zu schleifen.
Dann lag Jahrhunderte lang Vergessen über dem Heraion von Samos. Auch die Basilika inmitten fand keine Beachtung mehr. Nur die eine verbliebene Säule, die schweren Steintrommeln merkwürdig gegeneinander verschoben, ragte weithin sichtbar aus der von Erde und Gras wie für immer bedeckten heiligen Statt. Wenn Menschen kamen, dann nur, um aus dem überwachsenen Trümmerfeld Baumaterial zu holen für ihre bescheidenen Kapellen und Hütten.
Als im vorigen Jahrhundert die ersten Nordeuropäer nach Griechenland kamen, um nach Spuren der als so verwandt empfundenen Hellenen zu suchen, wurde auch das Heraion von Samos zum Ort der Aufmerksamkeit. Am Anfang dieses Jahrhunderts übernahmen die Deutschen die Ausgrabungen. Für die Dauer des letzten Krieges ließen die Wissenschaftler ihre Arbeitsergebnisse in einem Magazin zurück. Nach dem Kriege war das Magazin ein Scherbenhaufen. Dennoch dauern die Arbeiten der Deutschen an.
Heute ist das Heraion durch einen Zaun von der versengten Öde ringsum unterschieden. Die Touristen kommen, um, versehen mit Lageplänen und Erläuterungen, eine Zeit umherzuirren zwischen dem, was die Experten für Altertümer ans Licht gebracht haben: Zerschlagen, zerstört, zerwüstet liegt es da auf braunem, trockenem Boden, verteilt in totem, gelbdürrem Gras. Stumm schauen die Besucher an der noch immer riesenhaft anmutenden einzigen Säule empor, stehen verloren auf den zahlreichen Fundamenten weiterer Säulen und auf den marmornen Resten der Tempelmauern. Zuweilen streichen sie ratlos mit der Hand über einen der umherliegenden Steine, wenn sie Spuren einer Inschrift oder eines gemeißelten Musters entdeckt zu haben glauben. Am Beginn der so genannten Heiligen Straße, auf welcher einst die Prozessionen der Inselbevölkerung in das Heiligtum einzogen, sind auf einem langen Sockel Kopien der wenigen hier noch aufgefundenen Statuen aufgestellt. Es sind Weihgaben von Frommen, welche der Göttin ihre marmornen Abbilder zum Geschenk gemacht hatten. Die schönen, von faltenreichen Gewändern umhüllten Körper sind allesamt ohne Köpfe. Schnell wenden die wenigen Betrachter die Augen wieder ab, als könnten sie den Anblick der sinnlos gewordenen Gestalten nicht lange ertragen.
Manche stehen eine Weile vor der verwitterten Basilika und grübeln über den aus so unterschiedlichen Teilen zusammengesetzten Mauern. Hier das Bruchstück einer plastischen Verzierung, dort der Teil einer Säule, hier wieder der Rest eines Kapitels. Nichts paßt zum anderen, alles wird nur vom Mörtel zu einem Ganzen zusammengehalten. Auch das Haus der fremden Gottes im Heraion von Samos ist nun Ruine, verlassen, ausgeraubt, vergessen. Und wie die vernichtete Wohnstatt der Göttin wird diese sengend umfangen von Helios, dem alles belebenden, alles zerstörenden, wahrhaft Allmächtigen in der Höhe.
Megali Panagia
Mit dem samischen Heraion verödete schließlich auch die gesamte Insel. Zur Türkenzeit war sie fast menschenleer. Die heute noch vorhandenen Wälder waren wieder aufgewachsen. Schließlich setzte ein türkischer Admiral eine Neubesiedlung in Gang. Griechen zogen wieder in die Insel ein.
Zwei von ihnen, zwei Brüder, machten an einer tief im Walde versteckten Quelle einen merkwürdigen Fund: Unter Erde und Laub verborgen entdeckten sie ein kleines Keramikbild, welches eine Frau mit einem Kinde zeigte. Sie waren überzeugt, das Bildnis der Gottesmutter, der Mutter des Pantokrators, gefunden zu haben. Mit den Steinen, welche die verlassene Göttermutter Hera den Neuankömmlingen noch immer so reichlich aus ihrem schier unerschöpflich scheinenden Vorrat zur Verfügung stellte, wurde für das zum Heiligtum erklärte Bild am Ort seiner Entdeckung ein Kloster errichtet.
Auf der großen Marmorplatte des einstigen Tempelaltars, welche sich merkwürdigerweise zu diesem Zeitpunkt noch immer im Tempelgelände befunden hatte, standen nun in der Klosterkirche die Weihgeschenke für die Gottesmutter Maria, für die Große Allerheiligste, die Megali Panagia, welche, selbst Mensch gewesen, die Nöte der verletzlichen Menschennatur ernst zu nehmen verspricht, welche nicht fordert, sondern heilt, welche mütterlichen Schutz gewährt vor den quälenden Drohungen des Feuers.
Reichliche Gaben der Frommen ließen das in seiner Waldeseinsamkeit von Eingriffen der türkischen Landesbedrücker unbehelligte Kloster prächtig gedeihen. Rings um die Klosterkirche entstanden Unterkünfte für eine stattliche Anzahl von Mönchen. Schließlich konnte das Kloster sogar Schulen und Krankenhäuser der Insel unterstützen. In der Zeit des Aufstandes gegen die Türken dienten die Klosterräume den Rebellen als geheime Versammlungsorte, den Verfolgten als sichere Zuflucht. Die von gelegentlichen Piratenüberfällen und Bränden angerichteten Schäden konnten immer wieder behoben werden. Nur das bei einem dieser Brände vernichtete Bild der Gottesmutter war für immer verloren. Im Jahre 1947 verbrannte, ebenfalls unwiederherstellbar, die einst aus dem Heraion herbeigebrachte Altarplatte der vergessenen Mutter der vergessenen hellenischen Götter.
Im Jahre 1958 brach ein Waldbrand aus, welcher nicht nur den umgebenden Wald, sondern auch das Kloster der „Megali Panagia“ bis auf die Kirche in seiner Mitte vernichtete. Die Zerstörung des Klosters war so gründlich, daß ein Wiederaufbau zunächst ausgeschlossen erschien. Die Mönche zogen aus. Der einzige, welcher trotz der Verwüstungen blieb, ist wenige Jahre nach dem Unglück verstorben.
So liegt das Kloster der tröstenden Gottesmutter bis auf ganz wenige Versuche einer Wiederherstellung noch immer verbrannt, verwüstet, verlassen. Schwarz stehen im Lichte des Glühenden die Mauern, welche einst aus Steinen der zerschlagenen Wohnstätte der Göttermutter Hera aufgebaut worden waren, schwarz die Wände der Mönchszellen, zu deren leeren Fensterhöhlen es gleißend hereinflammt von den kahlgesengten Hügeln.
Die Kirche aber, in der Mitte der umgebenden Klostergebäude gelegen und so von diesen getrennt, hat den Flammen standgehalten und erfüllt weiterhin ihre Aufgabe als christliches Gotteshaus. Allsonntäglich wird hier Gottesdienst gehalten. Von weit her kommen die Inselbewohner, um in der Klosterkirche einem neuen Bild der Panagia nahe zu sein. Sie stören sich nicht daran, daß die kostbaren, jahrhunderte alten Fresken an den Wänden der Seitenkapelle vom Rauch geschwärzt sind, erloschen alle die bunten Bilder aus dem Erdendasein des Pantokrators, verwischt das Dunkelgold seiner erwarteten Wiederkehr am jüngsten Tage. Auch scheinen es die Andächtigen nicht zu bemerken, daß die Umrisse des göttlichen Sohnes kaum mehr auszumachen sind in der rußbedeckten Himmelskuppel, daß der Blick des Höchsten, wie aus dunklen Tiefen kommend, noch düsterer herabdroht aus der feuergedunkelten Höhe.
An der Kirchenpforte werden an die Besucher kleine Schriften über die Klostergeschichte verkauft. Darin ist ein Brief des inzwischen verstorbenen Metropoliten von Samos an die Samioten des In - und Auslandes abgedruckt. In diesem Brief heißt es:
„Wie können wir dieses Kloster wieder aufbauen, das unserer Insel so unendlich viel bedeutet hat...?
Wir bitten Sie, helfen Sie uns, auf welche Art auch immer. ....
Fordern Sie alle zur Hilfe auf, und bitte, handeln Sie rasch. Das Erbe, die Wurzeln unseres Volkes und unserer Traditionen müssen mit allen Mitteln erhalten und bewahrt werden. Heute bietet sich Ihnen eine gute Gelegenheit. Was immer Sie zu spenden beschließen sollten, von dem, was Sie ersparen und erübrigen können, schicken Sie es an unsere Metropolie.“
(Georgios K. Angelinaras, Das Kloster der großen Mutter Gottes Megali Panagia in Samos, Samos, 1991, S, 78)
Engel
Ringsum sind die orthodoxen Kirchen mit Abbildern derer ausgeschmückt, welche das bebende, das irrende Selbst endgültig besiegt zu haben vorgeben und meinen, dem Fordernden, dem Einen, dem Pantokrator gleich geworden zu sein. Die vom Himmelsgold umgebenen schmalen Köpfe der Heiligen sind zur Seite geneigt. Die hohen, hageren Stirnen tragen kein Haar. Die bunten Gewänder liegen schwer auf den zerbrechlichen Schultern. Mit tiefdunklen, weit geöffneten Augen aber suchen sie nach den Irdischen, um diesen den schweren Weg zu weisen, welchen sie selbst gegangen sind.
Wie die Abbilder des Pantokrators sind die Abbilder der Heiligen immer gleich durch alle Zeiten und Räume.
Gelegentlich aber trifft man in einer orthodoxen Kirche auch auf ein Bild wie dieses:
Von schimmerndem Blau umgeben schwebt ein Engel auf den Betrachter zu. Das junge, von dunkelblonden Locken gerahmte Gesicht grüßt den Besucher aus dem Norden mit vertrautem Blick. Der muskulöse Leib ist in der Art der hellenischen Krieger bekleidet, die Brust von einem Lederwams, die Lenden von einem kurzen Schurz bedeckt. Ein rötliches, um den Leib geschlungenes Tuch, mit seinen losen Enden in der Himmelsbläue wirbelnd, weht neben den weit ausgespannten schwanengleichen Engelsflügeln einher. Die Füße stecken in braunen Lederstiefeln, an denen man versucht ist, nach zusätzlichen Flügeln nach Art des einstigen Götterboten zu suchen. In der Hand hält der Schwebende ein goldenes Schwert, von dessen Spitze lange Strahlen ausgehen, wie, um es dem strahlenschleudernden Himmelsgott da draußen gleich zu tun.
Johanneskloster
Bald nach dem Sieg des neuen Gottes wurde auch der Artemistempel hoch oben auf dem Berge der Insel Patmos abgerissen, um ihn in eine Basilika umzuwandeln. Die zu der Zeit zunehmend um sich greifenden Mißordnung aber lockte bald darauf arabische Seeräuber an, welche nicht nur die Häuser der wehrlosen Inselbevölkerung, sondern auch das christliche Bethaus zuschanden richteten. Auch Patmos wurde so gut wie menschenleer. Im Gegensatz zu Samos aber wuchsen auf Patmos keine neuen Wälder auf, sondern die Insel verkam zu jener wasserlosen Öde, die wir auch heute noch auf ihr vorfinden.
Um auch in diesem entlegenen Teil des Reiches die kaiserliche Allgegenwart augenfällig werden zu lassen, machte der byzantinische Kaiser um das Jahr 1000 die Insel Patmos zusammen mit weiteren verlassenen Inseln ringsum einem Jünger des Herrn mit Namen Christodoulos zum Geschenk. Christodoulos begab sich mit ihm zugegebenen Begleitern umgehend zum patmischen Tempelberg und begann, aus den schon einmal ihrem Zweck entfremdeten Steinen dem unvergessenen Grottenheiligen Johannes ein Kloster zu bauen. Christodoulos soll die noch unversehrte Statue der Artemis auf dem Tempelgelände vorgefunden haben. Verbotenerweise sei er der „hohen Kunst“ der heidnischen Bildhauer noch für eine Zeit erlegen gewesen, ehe er das Götzenbild, erfüllt von heiliger Abscheu, vernichten ließ.
Die Mühen, inmitten der glühenden Öde von Patmos ein Kloster zu bauen, wozu die vorgefundenen Tempel - bzw. Basilikateile bei weitem nicht ausreichten, müssen ungeheuer gewesen sein, zumal das zu errichtende Bauwerk angesichts der auch jetzt nicht abreißenden Piratenüberfälle eher einer Festung als einer Herberge für Gottesmänner gleichen mußte.
Einer dieser Überfälle schließlich war so gründlich, daß die verängstigten Arbeiter allesamt das Weite suchten und Christodoulos ihnen notgedrungen folgen mußte. Enttäuscht starb er alsbald fern seines mit so viel Inbrunst begonnenen Lebenswerkes. Andere aber, die wundertätigen Gebeine des Klostergründers im Gepäck, setzten die schwere, aber heilverheißende Arbeit fort. Die Klosterfestung wurde vollendet. Eine Siedlung rund um das Kloster entstand. Ein Hafen wurde angelegt, von welchem aus alsbald eine ganze Flotte von Handelsschiffen entsandt werden konnte. Das Johanneskloster von Patmos, welches sich mit seinen von unten her gesehen buchstäblich himmelhohen Mauern für alle weiteren Eroberungs - und Plünderungswünsche als uneinnehmbar erwies, sogar den immer wiederkehrenden Erdbeben widerstand, wuchs an zu einem Machtzentrum im ostägäischen Meer. In seiner Glanzzeit umfaßte das Kloster der heiligen Insel an die 150 Insassen. Es waren Entsagende, sich selbst Erniedrigende und dennoch Herren.
Während der Türkenzeit erwies sich das Kloster nicht nur als steinerne, sondern auch als eine immaterielle Festung für die Bedrängten. Die Mönche, welche bisher vollens damit beschäftigt waren, die Erfordernisse der Klosterherrschaft mit den Forderungen ihres allgewaltigen Gottes in Einklang zu bringen, wandten sich ihren von Ungläubigen geistig niedergehaltenen Volksgenossen zu und gründeten im Jahre 1713 auf Patmos eine Schule für Hochbegabte, von welcher ein russischer Reisender schreibt:
„Die Insel Patmos ist jetzt überall berühmt, weil für die versklavten Griechen unter muselmanischem Joch diese Schule den Platz des antiken Athen eingenommen hat.“
(Tom Stone, Patmos, Athen, 1984, S. 30)
Außerdem mischten sich die Mönche von nun an täglich unter das bisher streng gemiedene Inselvolk, um ihm Kraft zum Durchhalten zu verleihen, Stolz auf das Eigene, damit es durch die Abwertung der Fremden nicht an Wert verliere, Mut, den Besatzern wenigstens im Herzen zu widerstehen.
Mehrere Schüler der Klosterschule von Patmos haben später im Laufe der Befreiungskämpfe von sich reden gemacht.
Die Worte, mit denen die Klostergeschichte des samischen Klosters der Megali Panagia schließt, gelten auch für das Johanneskloster auf Patmos:
„In den düsteren Jahrhunderten der Sklaverei und Turkokratie konnte vor allem in den Klöstern der christliche Glaube unbeschädigt überdauern, und es waren die Mönche, die die Reinheit der griechischen Sprache erhalten haben. Sie haben den Glauben an eine Wiederherstellung der griechischen Nation immer wieder wachgehalten, haben unverdrossen Sprache und Kunst gepflegt und die alten Traditionen und Tugenden unseres Volkes hochgehalten, die das griechische Volk vor einer Verrohung und einem geistigen Verfall gerettet haben.
Aus der monastischen Tradition sind leuchtende Vorbilder der orthodoxen Kirche hervorgegangen. Bedeutende Kirchenväter, Lehrer und Kämpfer für die Freiheit unseres Volkes entstammen dem Mönchsorden. Sie haben nicht nur die griechische Orthodoxie bereichert, sondern auch unser nationales Selbstbewußtsein gestärkt.“ (Klosterführer des Megali Panagia Klosters auf Samos, S. 70 f.)
Klostermauern
Und noch immer ist Patmos die heilige Insel der Mönche. Wie eine Zwingburg umschließen die mit Scharten und Zinnen versehenen Klostermauern den einstigen Tempelberg und beherrschen von ihrer alles überragenden Höhe aus die kleinen, in dornenbedeckten Hügeln und Halbinseln verborgenen Ortschaften. Wenn es heute auch nur noch an die dreißig Mönche sind, welche die klösterlichen Zellen bewohnen, noch immer gehört fast die gesamte Insel dem Kloster. Die Mönche entscheiden, was auf Patmos geschieht.
Alltäglich zwängen sich die Besucherströme durch das Innere des Klosters, durch die niedrigen Torbögen und gewundenen Gänge, über die engen, verwinkelten Treppen, vorbei an weißen Mauern und Nischen, welche alle geschmückt sind mit den unerläßlichen, leicht im warmen Winde schwankenden Blumenranken. Bereitwillig weisen die Mönche die beklommen Schweigenden in das ein, was ihnen als das Bild des anderen, des kaum Vorstellbaren und dennoch so heiß Ersehnten erscheint: in Räume, von deren altersgedunkelten Wänden die Heiligen mit ihren tiefernsten Augen nach den Ankommenden suchen, in dämmrige, aus unsichtbaren Lichtquellen schimmernde Hallen, wo die kostbaren, nie von unbefugter Hand berührten Klosterschätze hinter Glas aufbewahrt werden.
Hier und da mögen diese Bilder den einen, den anderen der hier blind Hereingespülten ergreifen. Hier und da mag ein leeres Herz erfüllt werden von den beklemmenden Wünschen des fremden Gottes, welcher schon seit zwei Jahrtausenden die Insel Patmos zu seinem Eigentum erklärt.
Mönch
Hoch auf den Zinnen des Klosters aber ist man den düster - goldenen Himmeln des unsichtbaren Gottes entrückt. Von Horizont zu Horizont spannt sich das helle, von Helios erfüllte Blau. Es ist das Blau. in welchem auch die Frommen zuweilen die Wünsche des fremden Gottes vergessen, um sich in Sehnsucht zu verlieren nach denen, die nicht sterben und dennoch den Sterblichen gleichen.
Was mag in dem jungen Mönch vorgehen, welcher am Abend von den Zinnen seines Klosters herabblickt auf das unter ihm ausgebreitete Meer? Auf den fernen, sich violett färbenden Abendschleier, welcher die zarten Inselketten ringsum in sich einzuschließen beginnt?
In dem schwarzen Gewand, welches die kräftige Gestalt umhüllt, spielt der Wind. Das Haupt, von langem, zum Knoten zusammengebundenen Haar und der hohen Mönchshaube bedeckt, ist hoch erhoben. In den dunklen Augen glühen allein die Strahlen des scheidenden Lichtes.
Festmahl
An dem kleinen Hafen einer von Reisenden noch nicht gänzlich überschwemmten Insel befindet sich eine Taverne. Auf der großräumigen Terrasse vor dem niedrigen Haus stehen weiße Tische und Stühle. Eine Platane, deren dicht bewachsene Zweige bis tief zu den Tischen herabhängen, schützt die darunter Sitzenden vor den Härten des Lichtes. Ein schön gedrechseltes, weiß gestrichenes Holzgeländer, von Weinlaub umrankt, begrenzt den Platz zum Hafen hin und läßt das tiefblaue Wasser hindurchleuchten, welches in kleinen verspielten Wellen an die Hafenmauer schlägt.
Von irgendwoher werden die Zweige des Baumes, werden die Blätter der verschlungenen Ranken von den zehrenden Wünschen der griechischen Musik durchglüht, welche immer nur weit draußen überm Meer ihr Ziel und ihre Erfüllung finden.
Der Tag ist im Steigen. Mehrere Tische sind zu einer Tafel zusammengestellt. Es wird für eine stattliche Anzahl von sich nach und nach einfindenden Gästen aufgedeckt. Es sind an die fünfzehn Mitglieder einer hier ansässigen Familie, welche irgendein Familienereignis zu feiern im Begriff sind und den Ortsgeistlichen dazu eingeladen haben. In den ernsten Mienen der Männer scheinen allein die dunklen Augen von Leben erfüllt. Die Frauen halten die von Spitzentüchern bedeckten Köpfe gesenkt. In den gesunden Gesichtern der Jungen mischen sich Bescheidung, Erwartung und Stolz. In andächtiger Gefaßtheit warten sie alle hinter ihren Stühlen stehend, bis der Geistliche kommt und als erster am obersten Ende der Tafel Platz nimmt. Schön legt sich das blaue Priestergewand um seine Gestalt. Mit erhobenem Haupt trägt er die hohe Kopfbedeckung des Geistlichen. In seinem alterslosen, von weißem Haar und Bart gerahmten Gesicht stehen gleichermaßen Fürsorge für die ihm Anvertrauten sowie Freude über das nun in mehreren Gängen aufgetragene Mahl. Das Mahl besteht aus Brot, Fisch, Wein und Früchten, was alles ihm als dem Haupte der Tafel als erstem vorgelegt wird.
Die Gespräch werden leise geführt. Meist sprechen, immer zum Geistlichen gewendet und seine eingeworfenen Verlautbarungen mit einbeziehend, die Männer. Die Frauen, die Gesichter leuchtend wie von einem verborgenen Lichte berührt, schweigen und haben die Blicke auf die Mahlzeit gerichtet. Die Kinder, die Wangen rosig von der überfließenden Wärme ringsum, schweigen ebenfalls. Nur ganz selten, als müßten sie sich ein Geheimnis anvertrauen, wispern sie sich etwas zu und lächeln.
Weit ist das eisklare Jerusalem, fern der brennende Feuersee mit seinen Drohungen und Schrecken.
Friedhof
Die Gräber der heutigen Griechen sind meist mit weißem Marmor bedeckt. Dicht an dicht liegen die im Lichte hell schimmernden Platten nebeneinander, auf jeder Platte ein Namensschild und eine Glasvitrine, in welcher ein mit Blumen geschmücktes Bild des hier Ruhenden aufgestellt ist. Vertraut, so, als sei gar nichts Einschneidendes geschehen, blicken die Augen der Davongegangenen auf die, welche kommen, um mit bunten Kränzen, mit Sträußen und mit Blumenranken überschwenglich ihre nie erlöschende Liebe und Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Ferne ist der Gott, welcher vorgibt, sich aller Toten zu bemächtigen, um sie für alle Ewigkeit entweder dem Feuersee oder dem kristallenen Jerusalem zuzuführen.
B I L D E R V O N D E N G Ö T T E R N
Die Wälder, die Tiere und die Hellenen sind gegangen. Die Götter der Hellenen aber erfüllen noch immer das Land zusammen mit so vielem, was jene den Unsterblichen zu Ehren einst schufen.
Die Götter der Hellenen waren ihren Geschöpfen ähnlich. Wie diese waren die Götter sowohl ihrem eigenen Wesen als auch einem ihnen selbst verborgenen Schicksal unterworfen. So kam es den Himmlischen weder in den Sinn, den Irdischen die Abkehr von ihrer Menschennatur abzuverlangen noch sie durch ein Buch voller Drohungen und Verheißungen zu verwirren. Die Olympischen ermutigten die Menschen vielmehr, dem Wesen der Dinge selbst nachzuspüren.
Haides
In einem nur wünschten die Ewigen sich von den Menschen zu unterscheiden. Nur einen kurzen Weg auf der sonnendurchglühten Erde gönnten die Unsterblichen ihren verletzlichen Geschöpfen.
Die Menschen aber, oft Söhne und Töchter der Himmlischen selbst, hatten die Kraft, das über sie Verhängte, ihre Sterblichkeit, mit Gelassenheit zu tragen.
So liegt keine Bitterkeit in den Worten eines trojanischen Kriegers, von seinem Kampfesgegener nach seiner Herkunft befragt:
„Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling;
So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet.“
(Ilias, 6. Gesang, 146 - 149)
Hektor, von seinem Weibe beschworen, doch nicht auszuziehen in den tödlichen Kampf, entgegnet:
„Armes Weib, nicht mußt du zu sehr im Herzen dich grämen.
Gegen das Schicksal wird mich keiner zum Hades senden.
Denn dem Verhängnis entrann wohl nie der Sterblichen einer,
Edel oder gering, nachdem er einmal gezeugt ward.“
(Ilias, 6. Gesang, 486 - 489)
In Tränen versucht die Meeresnymphe Thetis, ihren Sohn, den schnellfüßigen Achilleus, vom Kampfe fernzuhalten:
„Bald, mein Sohn, verblühet das Leben dir, so, wie du redest!
Denn alsbald nach Hektor ist dir dein Ende geordnet!“
Doch:
„Unmutsvoll antwortet drauf der schnelle Achilleus:
Möcht ich sogleich hinsterben, da mir nicht gönnte das
Schicksal,
meinen erschlagenen Freund zu verteidigen! Fern von der Heimat
Sank er und mangelte meiner, des Fluchs Abwehrer zu werden!“
(Ilias, 18. Gesang, 95 - 100)
Am Ende ihrer Wanderung auf Erden öffnen sich den Sterblichen die Tore der Unterwelt. Mit dem greisen Fährmann Charon überqueren sie den grauen Fluß, welcher das vom Höllenhund Kerberos bewachte Reich des Zeusbruders Haides umschließt. Für immer sind sie dann gefangen in den lichtlosen Gestaden , „...Tote
Nichtig und sinnlos wohnen, die Schatten gestorbener Menschen.“
(Odyssee, 11. Gesang, 475 f.)
Es ist die leere Tiefe, in welcher der Held Achilleus klagt:
„Lieber möcht ich als Knecht einem anderen dienen im Taglohn,
Einem dürftigen Manne, der selber keinen Besitz hat,
Als hier Herrscher sein aller abgeschiedener Seelen.“
(Od.,11. Gesang, 488 - 491)
Grabmal
Das Reich der Schatten läßt keine Hoffnung mehr auf das Licht. Für diejenigen aber, welchen wie dem jungen Achilleus das Verbundensein mit dem Freund von größerem Wert ist als das Atmen unter dem hellen Himmelsgewölbe, birgt die lichtlose Tiefe die Hoffnung auf ein Wiedersehen.
In Öl gesalbt, gekleidet in weiße Gewänder und mit Blumen bekränzt, wurden in Hellas die Verstorbenen zu ihrer Ruhe gebracht. Auf den Grabplatten standen steinerne Tafeln oder marmorne Ölgefäße, auf welchen die Lebensdaten, oft auch die Bildnisse der Toten und ihrer Angehörigen abgebildet waren.
Manche dieser Grabmäler sind uns erhalten geblieben, z.B. dieses aus der Münchner Glyptothek:
Ein ca. 70 cm hohes marmornes Ölgefäß zeigt das Relief der jungen verstorbenen Frau und ihres trauernden Gatten. Beide stehen voreinander und reichen sich die Hand. Die Frau, deren faltenreiche Gewänder die Schönheit ihrer schmalen Gestalt nicht verhüllen, hat den linken Fuß wie im Fortgehen nach rückwärts gewendet. Das vom Obergewand wie zu einer Reise bedeckte Haupt ist geneigt, der Blick des uns so über die Maßen vertraut und schön anmutenden Gesichtes nach unten gesenkt. Die Linke hängt lose herab. Ebenso matt liegt die Rechte in der Hand des Gatten, so, als hätten die zarten Finger nicht mehr die Kraft, die Hand des anderen zu umschließen.
Der Mann ist größer als seine Gemahlin. Das Gewand läßt die rechte Schulter seines kräftigen Körpers unbedeckt. Als wolle er auf seine scheidende Frau zugehen, ist seine Gestalt ihr zugeneigt, hat er seine Füße wie im Vorwärtsschreiten gesetzt. Suchend ist sein männliches Antlitz, sind seine Blicke auf sie gerichtet. Fest schließen sich seine Finger um ihre Hand. Die Linke, vom Gewand umhüllt, hält er gegen die Brust gepreßt. „Bleib!“ sagen seine Augen, sagt seine ganze Gestalt, aber er sagt es im Wissen um die schon gegebene Antwort. Er sagt es im Bewußtsein, das Höchste zu besitzen, was Sterblichen gegeben sein kann auf Erden: Das, was von den Göttern verhängt ist, mit Würde zu ertragen. Und er sagt es in der Gewißheit, daß Sterbliche, die sich für immer miteinander verbunden haben, wie Götter die Unsterblichkeit besitzen.
(München, Glyptothek, Attisches Grabmal: Lekythos mit Ehepaar um 375 v.Chr. Marmor, Höhe des Gefäßes 74 cm)
Helios-Apollon
In einem Wagen, von heiligen Schwänen gezogen, kam mit den Hellenen der goldlockige Apollon. Er war so schön von Angesicht, daß diejenigen, welche ihn schauen durften, blind wurden für anderes ringsum, daß sie nicht mehr Helios in seinem Sonnenwagen, sondern daß sie den blonden Gott aus dem Norden für den Spender allen Lichtes hielten: Apollon, den Grausamen, den Todbringenden, den Heilenden, den Wissenden um das Schicksal der Götter und der Menschen. Allgegenwärtig und dennoch getrennt von allem wie durch einen tiefen Graben, schenkte der Gott den Sterblichen seine Fähigkeit, von ferne zu schauen und das Geschaute neu zu schaffen: im Bild, im Wort, im Lied.
Schauen wir Heutigen zum Beispiel auf das unzerstört gebliebene Bild des Gottes vom Westgiebel des Zeustempels in Olympia, so mag der Himmlische auch uns die Gabe des Schauens verleihen. Er mag uns lehren, sein Wesen zu begreifen: seine verletzliche Jugend, die nicht altert, seinen Stolz, der kein Mitleid kennt; die Trauer dessen, der für immer abseits steht und die Götterschönheit, welche von sich selbst nichts weiß, welche aber in denen, die sie schauen, das ebenso heiße wie vergebliche Verlangen entzündet, ihr gleich zu sein.
Apollon, aus dem Lande der Hyperboreer gekommen, aus dem kühl - düsteren Lande jenseits des Nordwindes Boreas, Apollon, so wie er im Bilde des Zeustempels von Olympia vor uns steht, rührt nicht nur an unsere Sinne. Er rührt an unser Herz.
Orpheus
Einer der Söhne Apollons war der Sänger Orpheus. Weder über noch unter der Erde gab es ein Wesen, welches der Sänger nicht durch seinen Gesang und sein Leierspiel zu bezaubern verstand. Steine und Bäume kamen, um ihm zuzuhören. Das wilde Meer besänftigte seine Wogen, wenn er in der Nähe sang. Die Tiere vergaßen beim Lauschen, einander zu jagen. Die Menschen, wenn sie ihm zuhörten, standen ab von allen ihren guten und bösen Vorhaben, um für eine Zeit des Sängers Sehnsucht in die goldenen Fernen zu teilen. Am heißesten begehrten ihn des efeu - und weinlaubumkränzten Dionysos' wilde Begleiterinnen, die den Weingott ohne Unterlaß mit Gesang und Tanz feiernden Mänaden.
Orpheus liebte und heiratete aber die zarte Nymphe Euridike. Bald nach der Hochzeit wurde Euridike von Aristaios, einem anderen Sohn des Apollon, verfolgt. Die Nymphe floh vor ihm durch die hochgewachsenen Wiesen, trat versehentlich auf eine Schlange, wurde gebissen und starb. Die unermeßliche Liebe des Sängers zu seiner Gattin konnte jedoch durch den Tod nicht ausgelöscht werden. Er folgte der Freundin in die Unterwelt, indem er mit seiner Kunst den Fährmann, den Höllenhund und schließlich Haides, den König der Schatten, bezauberte. Was noch nie geschehen war, geschah: Es wurde Orpheus erlaubt, die Geliebte wieder mit zurückzunehmen in die helle Welt der Lebenden. Die einzige Bedingung war: Während des gemeinsamen Weges dorthin müsse Euridike hinter ihm bleiben und er dürfe sich bis zur Ankunft im Licht nicht nach ihr umwenden. Orpheus aber, in der lichtlosen Schattenstille von Angst und Sehnsucht verzehrt, wandte sich, noch ehe das rettende Licht erreicht war, nach der Geliebten um. Unendliche Trauer in den ermatteten Zügen, entschwand sie wie ein Nebel vor seinen Blicken. Wie herzzerreißend Orpheus nun auch vor den ehernen Toren des Haides sang, ein zweites Mal ließen ihn die Unterirdischen nicht eintreten.
Seither hatte der Sänger keine Freuden mehr im Licht. Er zog sich in die Wälder zurück und sang allein den Tieren von seinem nun nicht mehr zu heilenden Schmerz.
Die Mänaden aber wollten das wilde Weh seiner einstmals auch für sie gesungenen Sehnsuchtslieder nicht entbehren. Überwältigt vom Verlangen, sich von seinem Leierspiel berauschen zu lassen, begannen sie den einsam Trauernden zu suchen. Sie fanden ihn, und als er ihre Begierden nicht mehr zu stillen vermochte, rissen sie ihn aus Enttäuschung darüber in Stücke.
Sein schöner Kopf fiel dabei ins Meer, und, ohne Unterlaß weiter die Trauer um die verlorene Geliebte hinaussingend, trieb er an das Ufer der Insel Lesbos. Die Bewohner der Insel fanden des Sängers Haupt, begruben es und stifteten für ihn ein Heiligtum. Zum Dank dafür wurde den Inselbewohnern von Apollon die Gabe der Dichtkunst verliehen.
Sappho
So wurde die Insel Lesbos zur Insel der Sängerin Sappho. Wie der Sänger Orpheus war Sappho erfüllt von einer Liebe zum Unerreichbaren, welche die Grenzen des Ich überflutet und nur durch das Lied noch eine Form finden kann.
„Geschüttelt hat Eros mir die Sinne,
wie ein Wind vom Berg herab in die Eichen fällt.
Und wieder mich Eros, der gliederlösende, beugt und biegt,
das süßbittere, rettungslose Untier.“
(Sappho, Texte, 137 D. Die Übersetzungen der Gedichte sind
entnommen aus Diwald, Große Ereignisse I. Text oben: S. 216)
Obwohl die Nähe der Unsterblichen so schwer zu ertragen ist, liebte Sappho nur diejenigen, welche ihr unsterblich erschienen. Immer ließ sie den Geliebten in ihren Versen zum Unsterblichen werden für alle Zeit.
....Mir aber, ach, erschreckte
dies im Busen wahrlich das Herz; denn schau ich
flüchtig nur hinüber zu dir, versagt mir
völlig die Stimme,
und mir ist die Zunge gelähmt, ein feines
Feuer unterläuft mir die Haut urplötzlich:
mit den Augen sehe ich nichts, ein Dröhnen
füllt mir die Ohren,
und der Schweiß rinnt nieder, und meinen ganzen
Leib befällt ein Zittern, und bleicher bin ich
als das Gras, und nahe bereits dem Tode
schein ich......
(Sappho, Texte, 2D. Diwald, S. 222)
Den Göttern nahe sein aber heißt, ihre Unerreichbarkeit spüren. Den Göttern nahe sein, heißt leiden:
„Schon flüchtet Selene, die reine,
schon taucht ihr unter, Plejaden,
die Nacht und die Stunde laden:
ich ruhe noch immer alleine.“
(Sappho, Texte, 5. Buch 94 b. Diwald, S. 230)
Was bleibt, ist Sehnsucht, welche keine Erfüllung kennt:
„Oh Traum über nachtdunkles Land
schreitest du leisen Schrittes,
Wenn Schlummer umfängt Augen und Sinn
allen. die schlafen können.
Willkommener Gott, wahrlich die Qual
zeigst du mir nur zu deutlich!
Daß fern voneinander geschieden ist
die Kraft den Seligen und den Menschen.
Doch Hoffnung hält mich, daß mir zuteil nicht werde
das Schlimmste, und wieder
Erhoff ich für mich nichts
von der Seligen Leben, daß mir's werde.“
(Sappho, Texte, 4. Buch, 67 b. Diwald, S. 230)
Die Liebe, welche die Sängerin Sappho zum Geliebten empfindet und besingt, ist Gottesdienst. Es ist das Verlangen, des eigenen Leibes, der eigenen Schönheit, des eigenen Ichs nicht achtend, vom Gott alles zu fordern, dem Gott alles zu sein: Nähe und Ferne, Licht und Dämmerung, Himmel, Erde und Meer.
So ist es folgerichtig, daß die Legende erzählt, Sappho habe sich, nachdem sie ihre nie erfüllte Sehnsucht in all ihre Lieder gegossen, von einem hoch aufragenden Felsen hinabgestürzt ins still schimmernde, ins wild schäumende, ins nachtdunkel gleißende, in der Ferne sich für immer verlierende Meer.
Ca. eineinhalb Jahrtausende später haben die Priester des fremden, Gottes alle ihnen verfügbaren Lieder der hellenischen Sängerin verbrannt.
Was uns von ihrem Werk, welches zu seiner Zeit dem Sänger Homer an die Seite gestellt wurde, geblieben ist, sind wenige Reste.
Weiterhin aber gibt es Menschen, welche, kommen sie zur Dichterinsel Lesbos, den Gott und seine Sängerin spüren. Einer von diesen schreibt:
„Der Rundblick vom knapp tausend Meter hohen Berg Olymp auf Lesbos schafft sich seine eigenen Empfindungen. Die Sonne steht fast immer unbeirrbar über der sanften Wölbung des Meeres, sie schärft die Konturen, aber ihr fehlt die Härte der afrikanischen Nachbarschaft, die für die südlicheren Breiten charakteristisch ist. Wenn der Wind sich zu einer Brise entschließt und leise die Oberfläche der See zerknittert, lösen sich sogar die sinnlosen Belästigungen der Stirne auf. Am Horizont verfließt der Himmel in Azur und Amethyst, legt die Barrieren zwischen den Tatsachen und der Imagination nieder, verwandelt den Raum in königlichen Glanz. Ein innigeres Durchdringen von Licht und Wasser, Äther und Leben läßt sich kaum denken. Wenn irgendwo, dann besitzt auf Lesbos das Klima eine Melodie, werden die Elemente zu Klang und Gesang, öffnen sich hin zur Grazie, gehen in den Rhythmus der Sprache ein und verwandeln sie zum Medium einer atemberaubenden Kraft der Empfindung.“
(Diwald, Große Ereignisse, I, S. 213)
Asklepios
Ein anderer Sohn Apollons war Asklepios. Als die Mutter, eine Sterbliche, mit dem Kind des Gottes schwanger war, heiratete sie dennoch einen anderen. Apollon war so zornig, daß er seine Schwester Artemis bat, die Treulose mit ihrem Todespfeil zu töten, dann aber das Kind aus dem Leib der toten Mutter zu bergen. Der Sohn Asklepios wuchs bei dem weisen Kentauren Chiron auf, welcher ihn in die Heilkunst des göttlichen Vaters einführte. Asklepios war ein so guter Schüler, daß er schließlich selbst Tote dem Leben zurückzugeben imstande war. Da aber schaltete sich Zeus ein. Er sah darin eine Verletzung der von ihm gesetzten Ordnung und soll Asklepios als Strafe für seine Eigenmächtigkeit mit seinem Donnerkeil getötet haben.
Hat Zeus ihn wirklich getötet? Konnte er ihn töten, den Sohn eines Unsterblichen? Die Hellenen bauten ihrem göttlichen Helfer jedenfalls zahlreiche Heiligtümer, wo seine Priester die Kunst des Heilens erlernten und ausübten. Die Kranken flehten unbeirrt zum väterlichen Bild des milde blickenden Gottes und spürten seine mitfühlende, ermutigende Nähe.
Auf der Insel Kos befand sich ein solches Heiligtum des Asklepeios, ein Asklepeion, noch heute bekannt durch seinen weltberühmten Priesterarzt Hippokrates. Hier befanden sich Wohnungen für Ärzte und Kranke, Behandlungsräume, Badeeinrichtungen, Forschungsstätten und medizinische Museen. Eine die Stätte nach außen abschließende Mauer war auf ihrer Innenseite mit mannshohen Nischen ausgestattet, in welchen Statuen von Göttern und Priestern aufgestellt waren. Zu ihren Füßen floß heilendes Wasser aus dem Stein. Auf dem terrassenförmigen Gelände waren im Laufe der Zeit drei Tempel erbaut worden, zwei für den heilkräftigen Gott, einen für seinen göttlichen Vater. Die Tempel waren angefüllt mit Schätzen, Statuen und beschriebenen Tafeln, Weihgaben derer, welche sich dem Gott und seinen Priestern übergeben hatten, um das neu zu erlangen, was sie den Unsterblichen ähnlich machte, Schönheit und Kraft.
Mit Eindringen des Christentums wurde auch das Asklepeion von Kos aufgelöst, verwüstet, zerstört und inmitten der Trümmer eine Basilika aufgestellt. Bald aber war auch die Stätte des christlichen „Heilandes“ verlassen, von Dornen überwachsen, vergessen. Rund eineinhalb Jahrtausende gingen über das Heiligtum hin und entzogen es den Blicken der Menschen.
Am Beginn dieses Jahrhunderts hat der deutsche Archäologe Rudolf Herzog
das Asklepeion von Kos ausgegraben und es der Betrachtung der Menschen zurückgegeben.
Es ist das gewohnte Bild: Von Staub umgeben stehen nun die gebleichten Mauern. Die Nischen sind leer, die Quellen ausgetrocknet. Die wenigen noch aufrechten Tempelsäulen sind ohne Sinn. Im gelbdürren Gras liegen zerbrochen die Steine.
Ohne Anteilnahme sendet der Belebende und Verzehrende die Ströme seines Lichtes über den stummen Stein, über die kahlen, vom zitternden Mittagsdunst verhüllten Berge. Nur wenige kommen, schauen eine Zeit leer über die erstorbenen Stätte hin, um schnell wieder davon zu gehen.
An einer Seite jedoch grenzt der heilige Boden noch immer an einen Pinienhain, wie ein solcher einst das ganze Heiligtum umgeben haben mag. Aus dem Waldesboden, aus dem Holz der Äste, aus den biegsamen Nadeln strömt ein würziger Hauch, und zwischen Dämmer und Glanz streicht um die dunkeln Stämme die erlösende Kühle. Da berührt der heilende Gott noch immer den vom Glühen Zerschlagenen, den vor Schmerz Verstummten, den Hoffnungslosen mit seiner milden Hand und lädt ihn ein, ihm das, was sonst nirgendwo zu heilen ist, für immer zu übergeben.
Selene - Artemis
Apollon war nicht allein aus dem Norden gekommen. Er kam mit seiner Schwester Artemis, golden wie er, aber vom dämmrig - schwebenden Gold des schützenden Waldes, vom silberhellen Gold der Nacht.
Zart, scheu, durchscheinend verband sie sich am nachtdunklen Himmel mit der stillkühlen Selene, warf fortan mit ihr zusammen den Siberglanz weit hin über die tiefen Wasser, wie, um in den Sterblichen das Verlangen zu entzünden nach ihren sanften, von allen Härten und Schmerzen des Lichtes erlösenden Pfeilen.
Wie nahe man der jungfräuliche Göttin kommen kann, zeigt folgende Tagebucheintragung über ein Bad im nächtlichen Meer:
„So tauche ich denn ein in das abgründige Geheimnis der Tiefe und schwimme mit langsamen Zügen die Straße entlang, welches die kühl scheue Göttin mir weist auf den warm - dunklen Wassern der Nacht, schwimme hinein in ihr schwebendes Funkeln, welches sie immer neu darüber ausgießt aus nie zu erschöpfenden Quellen. Tiefer und tiefer sinke ich in die silberne Flut. Näher und näher kommt mir das aus dem Todesdunkel entstiegene göttliche Bild, lächelt mir lockend zu und, will ich zu ihm empor steigen, entzieht es sich mir in die immer gleiche, nie zu erreichende Ferne. Schmeichelnd spüre ich den Glanz der Unsterblichen in meinen Händen, doch versuche ich, ihn festzuhalten, verrinnt er im weiten Schimmer der Dunkelheit.
Einmal werde ich auf der göttlichen Straße weitergehen bis zu ihrem Ende. Einmal wird es die Rückkehr nicht mehr geben zum harten, zum steinigen Boden, zum Ufer der sich immer erneuernden Schmerzen.
Wann?“
Parthenon
Der Höhepunkt fast einer jeden Griechenlandreise ist der Besuch des Burgberges von Athen, ein Besuch des Parthenons auf der Akropolis.
Wann immer man die griechische Hauptstadt betritt, wo immer man sich in ihr befindet, hoch über allem Land ringsum, hoch über der Stadt leuchtet der Tempel der jungfräulichen Stadtgöttin und erfüllt einen jeden, der zu ihm aufschaut, mit Sehnsucht, ihm nahe zu kommen.
Zögernd entwirrt sich das geräuschvolle Labyrinth der Stadt. Ungern öffnen sich die engen Gassen und geben Raum für leere Plätze, auf denen die Reste eingestürzter antiker Bauwerke verstreut umher liegen. Steinig - steil, an seinen Rändern von staubbedecktem Buschwerk bewachsen, windet sich schließlich der Pfad hinauf zur Akropolis, immer wieder den Blick freigebend über die in blassen Dunst gehüllte, sich zuweilen bis zum Horizont erstreckende griechische Hauptstadt. Gnadenloser noch dem himmlischen Glühen ausgesetzt, führen dann die hohen Stufen der Propyläen zum heiligen Berg der Göttin.
Doch dann: Was immer man über den Tempel Athenas schon gelesen haben mag, wie viele seiner Bilder man schon im Herzen trägt, mit welchen Erwartungen man auch gekommen ist: Die Kraft der alle menschlichen Begriffe übersteigenden, in unermeßbare Höhen strebenden Marmorsäulen, umflossen und durchtränkt von einem nicht in dieser Welt entspringenden Lichtstrom - der erste Anblick des Parthenons läßt das Ich für eine Lange Weile wie ausgelöscht erscheinen. Es soll Menschen geben, welche in Tränen glauben, hier nicht Menschenwerk vorzufinden, sondern das Werk der Himmlischen.
Wie ist es möglich, daß dieses vor zweieinhalb Jahrtausenden errichtete, seither den mannigfachsten Verwandlungen und Zerstörungen unterworfene Bauwerk auch heute noch zu vermitteln imstande ist, was seine Erbauer bewegte: die Gegenwart der Götter?
Der Parthenon, der Tempel der jungfräulichen Stadtgöttin Athens, ist zusammen mit anderen Heiligtümern nach dem Sieg über die Perser erbaut worden, um die von den Persern zerstörten Bauten des Burgberges zu ersetzen. Zentrum des Tempels war das in seinem dämmrigen Allerheiligsten, im Naos aufgestellte Standbild der Athena Parthenos, eine ca. zwölf Meter hohes Holzfigur, bedeckt mit Elfenbein und Gold. Der fensterlose Innentempel war an den Längsseiten einreihig, an den Schmalseiten doppelreihig von Marmorsäulen umgeben, welche womöglich das Andenken an die Weltsäule wachhalten sollte, die, der Sage nach, hoch im Norden direkt unter dem Polarstern steht und das Himmelsgewölbe trägt. Zwischen dem Dach und dem Architraph, den aufliegenden Quersteinen, lief rund um den Tempel ein Marmorfries. Durch dreigliedrige Pfeiler voneinander getrennt, waren hier in 92 bemalten Reliefplatten, sogenannten Metopen, die mythischen Kämpfe der Hellenen dargestellt: Kämpfe mit den Giganten, mit den Kentauren, mit den Amazonen und den Trojanern. Jedes einzelne Ringen vermittelte gleichermaßen die nicht zu erschöpfende Freude der Hellenen an der Kraft des menschlichen Körpers sowie das Bewußtsein, selbst den gewaltigsten Körperkräften des jeweiligen Gegners überlegen zu sein. Die beiden Giebelfelder an den Schmalseiten waren mit ebenfalls farbigen Marmorskulpturen ausgeschmückt: Der Westgiebel über dem Eingang zeigte die Geburt der Göttin aus dem Haupt ihres Vaters Zeus, der Ostgiebel den siegreichen Wettstreit der Göttin mit Poseidon um die Herrschaft über Attika: Poseidon läßt eine Salzquelle aufspringen. Götter und Helden aber entscheiden sich für den von Athena gespendeten Ölbaum.
Um den Innentempel lief im Schatten der umgebenden Säulen ein weiterer mit farbigen Reliefs ausgestalteter Fries. Gezeigt wurde der Festzug des alle vier Jahre stattfindenden Festes für die Stadtgöttin, der Panathenäen, bei welchem die gesamte Stadtbevölkerung zum Tempel Athenas zog, um ihr zu opfern und ein neues Gewand zu überbringen. Von der östlichen, dem Ankommenden zugewandten Schmalseite aus lief der Zug zweigeteilt an den beiden Längsseiten entlang, um über dem Tempeleingang an sein Ziel gelangen. Am Ende des Zuges bereiteten sich die Epheben, die Wehrpflichtigen der Stadt, zum Fest vor. Einige von ihnen saßen bereits auf den ungesattelten Pferden und hatten sich, die schönen Gesichter ernst nach vorn gewendet, dem Zuge angeschlossen. Ihnen voran lenkten hellockige Wagenführer ihre Streitwagen. In lange Mäntel gehüllt, vertieft in Gespräche, schritten die bärtigen Stadtväter hinter den geführten Opfertieren und den Trägern von Wasserkrügen und Weihgaben. Angeführt wurde der Festzug von den schönsten Frauen und Mädchen der Stadt, welche das neu gewirkte Gewand für Athena trugen. Um dieses zu empfangen, war Athena zusammen mit den anderen Unsterblichen eigens vom Olymp zum Burgberg von Athen herabgestiegen, und, fröhlich versammelt, erwarteten die Götter an der westlichen Schmalseite über dem Tempeleingang die Huldigungen der Menschen.
Können aber Sterbliche auf Dauer die Nähe der Himmlischen ertragen? Kurz nach der Fertigstellung des Tempels wurde Phidias, der Schöpfer der Athena Parthenos und allen plastischen Tempelschmucks des Parthenons wegen Gotteslästerung und einer angeblichen Unterschlagung vor das Volksgericht gezogen. Der Künstler, ca. 60 - jährig, starb noch vor Abschluß des Verfahrens im Gefängnis.
Anschließend entbrannte zwischen Athen und Sparta, den gemeinsamen Siegern über den asiatischen Feind, ein 30 - jähriger gnadenloser Krieg, welcher die Kraft der Hellenen für immer verzehrte.
Für noch acht weitere Jahrhunderte aber wurde die Göttin in ihrem Tempel geehrt. Dann erschienen auf der Akropolis die Jünger des fremden Gottes, um den Burgberg zum Bischofssitz und das Parthenon zur Kapelle ihrer eigenen jungfräulichen Göttin umzugestalten. Das Bild der Athena Parthenos wurde hinausgetragen. Bis heute weiß niemand, wohin. In die heilige Dämmerung des Naos zog die unbefleckte Gottesmutter Maria ein. Was am Tempel störend erschien, wurde zerschlagen, z.B. die Geburt Athenas im Ostgiebel und fast alle gut sichtbaren Metopen auf der Nordseite. Der Innenfries blieb auf wunderbare Weise unbeschädigt.
Abgemagerte Heilige bezogen am Fuße des Burgberges Säulenstümpfe als ständigen Wohnsitz. Athen, die schönste Stadt der Hellenen, verkam im christlichen Byzanz zur Schutthalde.
Nach dem Sieg des christlichen Westens über das christliche Byzynz entstand um die Propyläen eine ansehnliche Ritterburg mit einem alles andere überragenden Turm, „Frankenturm“ genannt. In das Parthenon zog die Jungfrau Maria der römischen Kirche ein. Auf dem Vorplatz wurden Ritterspiele abgehalten.
Rund 250 Jahre danach eroberten die Türken die Stadt. In der Propyläenburg residierte nun der türkische Stadtkommandant. Im Erechtheion installierte sich ein Harem, im Parthenon mit beigefügtem Minarett eine Moschee.
Im Jahre 1687 versuchten die von den Türken vertriebenen Venezianer noch einmal, im östlichen Mittelmeer Fuß zu fassen. Sie belagerten die Akropolis. Die bedrängten Muselmanen demontierten den noch vollständigen kleinen Niketempel, um die Burg zu einer Festung zu erweitern. In der Meinung, daß Allah sein Haus schützen werde, verbrachten sie sämtliche Waffen und Munition in die säulenumstandene Moschee. Doch Allah war ferne. Ein gezielter Schuß der Venezianer auf das Parthenon brachte das eingelagerte Pulver zur Explosion. Das Tempeldach samt Minarett, ungefähr die Hälfte der Säulen und große Teile des Innentempels stürzten ein. Das Parthenon wurde zur Ruine. Auf der Akropolis zogen die Venezianer ein. Der siegreiche Kommandant beschloß, die noch vorhandenen Skulpturen des Westgiebels seiner Heimatstadt zuzuführen. Allein beim Versuch, diese von ihren Halterungen zu lösen, stürzten sie zu Boden und zersprangen dröhnend zu Stücken. Nicht lange darauf mußten die Venezianer wieder gehen. Die Türken kehrten zurück, erklärten den Burgberg Athens wieder zur Festung und bedeckten seine Hänge mit Wohnanlagen für die Besatzung. Um Baumaterial zu bekommen, verbrannten sie von den umherliegenden Teilen, was immer ihnen geeignet erschien, in ihren Kalköfen. Im entleerten Inneren des Parthenons entstand eine zweite Moschee, diesmal jedoch ohne krönendes Minarett.
Als die Kraft der Besatzer im Laufe der Zeit dahinschwand, richteten sich die Blicke der Westeuropäer vor allem auf das antike Athen. Der Engländer Lord Elgin, zu Beginn des letzten Jahrhunderts britischer Botschafter an der Hohen Pforte, zeigte sich erfolgreicher als der Venezianer. Er erwirkte von dem in seinen Entscheidungen schon nicht mehr souveränen Sultan die Erlaubnis, auf der Akropolis arbeiten und dabei einige Steinblöcke als Eigentum betrachten zu dürfen. Darauf erschienen an die 400 Arbeiter auf dem Burgberg. Das, was vom Parthenon verblieben war, wurde eingerüstet. Noch vorhandener Figurenschmuck, welcher sich als entfernbar erwies, sowie zu Boden gestürzte Teile von Plastiken wurden in Kisten gepackt und zu Verkaufszwecken in die angelsächsische Heimat verschifft. Es waren die Hälfte des verbliebenen Frieses, vierzehn Metopen und fast alle noch vorhandenen Giebelfiguren.
„Räuber, Plünderer, Tempelschänder, Vandale und Steinhändler“ wurde er vom hellenenbegeisterten Lord Byron geschmäht. Das ebenfalls hellenenbesessene Europa war empört. Die Britische Regierung aber fällte ein weises Urteil über den Tempelraub: Der auf einen hohen Gewinn hoffende Steinhändler wurde gezwungen, seine Beute für die Hälfte seines Einsatzes an das Brtische Museum in London zu verkaufen. Dort im grauen Norden liegen nun all diese Abbilder der Hellenen und ihrer schönen Götter bis zum heutigen Tage.
Nach der Befreiung der Griechen vom türkischen Joch fällten die eigentlichen Befreier, die Briten, wiederum eine weise Entscheidung. Nicht sie selbst, auch nicht die befreiten Griechen, sondern ein kleines, neutrales Land sollte den künftigen König stellen. So zog im Jahre 1833 der 17 - jährige Sohn des ebenfalls hellenophilen bayerischen Königs als Monarch in Griechenland ein. Ein Jahr später kam, ebenso vom bayerischen König geschickt, der ganz vom Geist der Hellenen durchdrungene Architekt Leo von Klenze nach Athen. Dieser bewirkte zweierlei: Zum einen verhinderte er eine weitere Neugestaltung der Akropolis zu einem griechisch - bayerischen Königssitz. Zum anderen ist es seiner Initiative zu verdanken, daß im Laufe der kommenden Jahre die Akropolis von den Zutaten aus ein und ein halb Jahrtausenden befreit wurde, welche die noch vorhandenen Reste des heiligen Bezirks überlagert hatten wie eine undurchdringliche Kruste. Zu der gewaltigen Arbeit des Schuttabladens kam dann die schwierige Aufgabe der Archäologen, das einst Gewesene, so gut es ging, aus den noch vorgefundenen Teilen wiederherzustellen. Die Arbeit ist gelungen. Der Niketempel, das Erechtheion, die Propyläen und vor allem der Parthenon haben wieder die Gestalt, welche ihre Erbauer für sie vorgesehen hatten, und sie vermitteln den Beschauern wieder das, was die Hellenen einst in sie hineinlegten.
Ein Historiker schreibt: „Was wir heute sehen, verdanken wir „begnadeten, zähen, bescheidenen Künstlern; einsichtsvollen bayerischen Behörden, die sie gewähren ließen; einem bayerischen König, der seit Knabenzeiten von Griechenland schwärmte; und seinem Sohn, der König der Hellenen wurde und sich in der Rekonstruktion der Akropolis das schönste Denkmal setzte, das sich denken läßt.“ (Wolf Seidl, Bayern in Griechenland, München, 1981, S. 243)
Die Unsterblichen haben ihr Zentrum nicht in Raum und Zeit. Sie können sich, wo und wann immer es Sterbliche nach ihnen verlangt, wieder zu ihnen herabneigen. Es waren Menschen aus dem Norden, welche die blauäugige Athena in sich trugen. Die einen verschleppten vom Eigentum der Göttin, was sie transportieren konnten, in ihre Heimat. Die anderen haben das, was einst für die Göttin geschaffen worden war, am Ort seiner Entstehung wieder sichtbar werden lassen. Es sind Menschen aus den blassen Zonen der Erde, welche angesichts des Parthenons, angesichts dieses nicht mehr zu steigernden Ausdrucks der menschlichen Sehnsucht nach den Unsterblichen den Atem der Göttin spüren, die Nähe der unerreichbaren und doch tief in unserem Wesen ruhenden Götter.
Wie hoch Helios-Apollon auch am Himmel steht, mitten in seinem betäubenden Glanz beginnt er den Weg in die Nacht, beginnt er, seine Strahlen mit abschiednehmendem Silber zu füllen und Himmel und Meer aufglänzen zu lassen in der Sehnsucht nach dem Licht, welches die Dunkelheit nicht kennt.
Wie flammend der Gott seine Geschöpfe auch umfaßt, immer umfaßt er sie mit Trauer über den ihnen bevorstehenden Weg in die Tiefe. Immer aber umfaßt er sie auch in der Gewißheit, daß das, was sinken muß, wieder aufsteigt: zart, jungfräulich, silbrig schön; gleißend, quälend, voller Täuschung; stolz und voll von glühender Grausamkeit.
Wenn irgendwo auf dieser Erde - beim Anblick des neu erstandenen Tempels der jungfräulichen Göttin der Hellenen können wir wieder lernen, was uns verloren gegangen ist seit unvordenklichen Zeiten, nämlich:
„...daß das Geheimnis der Welt im Sichtbaren liegt und
nicht im Unsichtbaren.“
(Diwald, Große Ereignisse, Bd. I, S. 13).
-Ende-